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Aus der Geschichte lernen IX – Der Aktionär und der Kapitalist. Corporate Governance aus historischer Perspektive

Financial self-defense
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Dies ist der neunte Artikel einer ganzen Serie unter dem Titel “Aus der Geschichte lernen”, die zu den aktuellen Problemen der Finanzmärkte einiges (durchaus erhellendes) historisches Hintergrundwissen bietet.

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© Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C. 20540

Unmittelbar nach der Finanzkrise hat man sich bei der Regulierung zu Recht auf die offensichtlichsten Probleme konzentriert: Eigenkapitalanforderungen, Schattenbanken, Derivate und Systemstabilität. Aber jenseits dieser notwendigen Reformen wurde der moderne Kapitalismus auch grundsätzlich in Frage gestellt. Was sind Kapitalmärkte, Aktionäre und Aktien, und warum brauchen wir sie? Ist unsere wirtschaftliche Ordnungspolitik geeignet, um ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu fördern?

Im Jahr 1932 haben Berle und Means ein Buch veröffentlicht, das ein neues Themenfeld eröffnete: Corporate Governance. Zwar wird auf dieses Standardwerk häufig Bezug genommen, doch kaum jemand macht sich noch die Mühe, es zu lesen – dabei liefert es erhellende Erkenntnisse zu diesen Fragen.

Die Trennung von Eigentum und Kontrolle

Im Jahr 1932, drei Jahre nach dem Crash von 1929, haben Berle und Means ihr Werk „The Modern Corporation and Private Property“ veröffentlicht. Heute geht man davon aus, dass es hier die Anfänge der Corporate Governance liegen, die später ein neues wissenschaftliches Forschungsfeld wurde. Es gelangte auch in die Hände der Gesetzgeber und legte die intellektuelle Grundlage für die Schaffung der US-Börsenaufsicht (Securities and Exchange Commission , SEC) im Jahr 1934.

Im berühmten Kapitel VI des ersten Buches, das den Titel “Die Divergenz der Interessen zwischen Eigentum und Kontrolle” trägt, ist erstmals die Trennung von Eigentum (Aktionäre) und Steuerung (Manager) in modernen Unternehmen eingehend analysiert worden. Berle und Means wiesen auf den strukturellen Interessenkonflikt zwischen Managern und Aktionären hin, wobei die Ersteren dazu neigen würden, den persönlichen Gewinn vor die Interessen des Unternehmens zu stellen. Dies führte zum Verbot von Insiderhandel und zum Erlass von finanziellen Offenlegungspflichten. Aber waren Berle und Means wirklich die Vorkämpfer für Einzelinvestoren, die unter den gierigen Managern litten? Und wenn ja, warum fürchteten sie, dass “der Großteil der amerikanischen Industrie bald von Treuhändern geführt würde, was einzig den inaktiven und verantwortungslosen Inhabern von Wertpapieren von Nutzen wäre“?

Die Ideengeschichte birgt zuweilen Überraschungen. Berle und Means sind bekannt geworden für ihr Konzept der Trennung von Eigentum und Kontrolle. Aber diese Erkenntnis war tatsächlich nur der Ausgangspunkt einer erstaunlich prophetischen Reflexion über die modernen Finanzmärkte.

Die Kapitulation des Aktionärs

Zunächst stellen Berle und Means die grundlegenden Annahmen der neoklassischen Ökonomie infrage, dass Kapitalisten risikofreudige Unternehmer seien, die es gebührend zu entlohnen gilt, und dass Unternehmen im Besitz ihrer Aktionäre seien. Die Autoren vertreten die Auffassung, dass die Streuung des Eigentums diese Ansicht obsolet werden lässt. Sie waren nicht die ersten, die das problematische Verhältnis von Kleinaktionären und Kontrolle erkannten. Im 18. Jahrhundert sprossen die ersten Aktiengesellschaften in Großbritannien aus dem Boden. Als er im Jahre 1776 über den Konkurs eines solchen Unternehmens in seinem Buch „Der Wohlstand der Nationen“ schrieb, stellte Adam Smith fest, dass “es über eine große Kapitalmasse verfügte, die auf eine Unzahl an Eigentümern verteilt war. Man musste daher damit rechnen, dass Dummheit, Fahrlässigkeit und Überfluss in den Verwaltungsabläufen die Überhand gewannen.” Der große Erfolg von Konzernen seither zeigt, dass auch ein großer Ökonome wie Adam Smith eine wichtige Entwicklung des Kapitalismus, die bereits im Gange war, als er sein Buch schrieb, nicht vorhergesehen hat. (Es ist immer ein bisschen ungerecht, aber auch tröstlich, im Nachhinein festzustellen, dass selbst die größten Geister manchmal völlig falsch liegen).

Allerdings beschäftigen sich Berle und Means weder mit der Frage der Effizienz, noch machen sie einzelne Aktionäre für ihr Verhalten verantwortlich, was auch sinnlos sein würde. Sie widmen sich wesentlich grundlegenderen Fragen und versuchen Rückschlüsse auf die Funktionsweise des System zu ziehen: “Die Besitzer von passivem Eigentum haben durch den Verzicht auf Kontrolle und Verantwortung für das aktive Eigentum auch darauf verzichtet, dass das Unternehmen in ihrem alleinigen Interesse geführt wird – sie haben die Gesellschaft von der Verpflichtung freigestellt, sie in vollem Umfang zu schützen, wie es strenggenommen nach der Theorie der Verfügungsrechte sein müsste. […] Die Kontrollgruppen [das heißt die Manager] haben vielmehr den Weg für die Ansprüche einer Gruppe frei gemacht, die viel größer ist als die der Eigentümer oder der Kontrollbesitzer.

Überraschend ist ihre Schlussfolgerung, wonach die Aktionäre nicht die einzigen Entscheidungsträger sein sollten: Andere Interessengruppen, wie Mitarbeiter oder Vertreter des Allgemeininteresses, sollten auch in das Management des Unternehmens einbezogen werden. Daher ist es recht amüsant, dass Berle und Means unablässig von jenen zitiert werden, die eine Stärkung der Aktionärsrechte verteidigen.

Die Autoren gingen noch weiter, wenn sie behaupten, dass sich dies in der Gewinnverteilung niederschlagen sollte: “Es ist denkbar, dass – in der Tat scheint es fast unerlässlich für das Fortbestehen der Unternehmensstrukturen – die “Kontrolle” über große Kapitalgesellschaften von völlig neutralen Technokratien übernommen wird, die die Vielzahl von Ansprüchen verschiedener Gruppen in der Gesellschaft ausbalancieren und jeder einen Teil der Einnahmen zuweisen, und zwar auf Grundlage der öffentlichen Ordnung und nicht privater Habgier“. Obwohl die Beteiligung der Interessengruppen heute weithin anerkannt ist (siehe OECD-Grundsätze zur Corporate Governance, 2004), würde heute niemand solch radikale Forderungen stellen, dass Aktionäre ihre Dividenden entzogen werden sollten.

Die Banalität von Aktien

Inwieweit lässt sich diese Theorie auf das Finanzwesen übertragen? Was Berles und Means‘ Überlegungen ausgelöst hat, waren die Größenverschiebungen in der amerikanischen Industrie. “Allein ihre Größe scheint diesen riesigen Konzernen eine gesellschaftliche Bedeutung zu verleihen, was bei den wesentlich kleineren Einheiten in privaten Unternehmen nicht der Fall ist.” Jetzt denken sie einmal an die Größenexplosion und Konzentration, die die Finanzindustrie in den letzten zwanzig Jahren erlebt hat, und Sie werden schnell erkennen, dass die Herausforderungen des Jahres 1932 noch nicht gemeistert wurden. Haben wir das nötige Denkwerkzeug, um die Rolle der Großbanken und ihrer Aktionäre in unserer Wirtschaft zu erfassen?

Im Vorwort zur überarbeiteten Ausgabe von 1967 bewertete Adolf A. Berle die rechtlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen in den USA seit der Erstveröffentlichung von „The Modern Corporation“ im Jahre 1932. Er behauptete, dass Aktien auf den modernen Finanzmärkten nicht mehr als ein finanzieller Vermögenswert seien, genauso wie Immobilien oder Rohstoffe. Im Jahr 2014 stimmt man dieser Ansicht im Allgemeinen zu, nicht jedoch zu der Zeit, als Berle sein Vorwort schrieb.

Diese Banalität der Aktien führt letztlich dazu, dass man zwischen Investments und Aktienkauf eine klare Trennlinie ziehen muss. Hier ein längeres Zitat, um dies zu verdeutlichen: “Das Vermögen [von Aktionären] lässt sich inzwischen eindeutig nicht mehr mit den alten ökonomischen Maximen rechtfertigen, auch wenn die Anhänger der neoklassischen Ökonomie weiterhin voller Leidenschaft und Sentimentalität Argumente vorbringen, um uns Glauben zu machen, das alte System habe sich nicht geändert. Der Käufer einer Aktie trägt nicht dazu bei, dass ein Unternehmen Rücklagen bilden kann und damit seine Produktion oder seine Abläufe verbessern könnte. Er geht nicht das “Risiko” einer neuen oder erhöhten wirtschaftlichen Aktivität ein, er schätzt lediglich ab, wie hoch die Chancen liegen, dass die Aktien des Konzerns im Wert steigen. Durch seinen Aktienkauf, mit dem er vor allem eigene Interessen verfolgt, trägt er einzig dazu bei, dass die Liquidität für andere Aktionäre erhalten bleibt, die ihre Bestände in Bargeld umwandeln wollen. Weder kann noch beabsichtigt er, strategische oder unternehmerische Aufgaben oder Rollen zu übernehmen.

Ist Kapital noch Kapital?

Man könnte antworten, dass Kapital immer passiv gewesen ist, wie der Marxismus es gezeigt hat. Aber Berle würde wahrscheinlich argumentieren, dass das passive Halten von Aktien die Passivität der Kapitalisten immer weiter verstärkt, bis man sie schließlich nicht mehr Kapitalisten nennen kann, weil sie nicht einmal unternehmerische Grundeigenschaften aufweisen. “Passives Eigentum – vor allem Aktien – verliert zunehmend seine Funktion als “Kapital”. Es hat sich in erster Linie zu einem Verfahren entwickelt, um das liquide Vermögen zu verteilen, und zu einem Kanal, um Einnahmen zu verteilen, deren Akkumulation für Kapitalzwecke nicht erforderlich ist.

In philosophischer Hinsicht stimmt Finance Watch mit Berles drastischem Fazit überein, dass die Finanzmärkte nicht ihre “Kapitalfunktion” verlieren sollten und stattdessen ihre Fähigkeit zurückerlangen sollten, tatkräftig daran mitzuwirken, Investitionen in die EU-Wirtschaft zu lenken. Allerdings muss man berücksichtigen, dass die Märkte stets dazu tendieren, diese Funktion zu vernachlässigen und ein reines “Verteilungsverfahren von liquidem Vermögen” zu werden. Deshalb setzt sich Finance Watch dafür ein, dass die Kapitalmärkte ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Investoren und den Unternehmen, in die sie investieren, fördern sollten, so dass die Gesellschaft mitprofitiert, wenn Anleger Gewinne machen, anstatt einfach nur Liquidität für spekulative Wetten bereitzustellen (siehe das Dossier über langfristige Finanzierung).

Zum Schluss – und aus Spaß an der Freude – zitiere ich noch das beeindruckende Schlussfazit, das Berle 1967 unter sein Vorwort setzte: “Die Existenz der Aktionäre lässt sich also nur dadurch rechtfertigen, dass sie sich über die amerikanische Bevölkerung gerechter verteilen. […]. Ein gesichertes jährliches Mindesteinkommen für alle, ein staatlich garantiertes Mindesteinkommen, ein Aktienanteil an der Wirtschaft der Vereinigten Staaten für jede amerikanischen Familie – das alles sind verschiedene Möglichkeiten, um die Amerikaner dazu zu befähigen, Herr über ihr eigenes Leben zu sein, anstatt ihr Leben von blinden Wirtschaftskräften beherrschen zu lassen, von Armutszwängen oder von der Bürokratie der sozialen Arbeit“.

Fabien Hassan

Referenzen

Berle , Adolf A., und Gardiner C. Means . The Modern Corporation und Privateigentum . New York: Harcourt , Brace & World , 1968.

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