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Aus der Geschichte lernen VI – Pro und Contra Leerverkäufe

Regulation of financial markets
Reading Level: Expert
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Dies ist der sechste Artikel einer ganzen Serie unter dem Titel “Aus der Geschichte lernen”, die zu den aktuellen Problemen der Finanzmärkte einiges (durchaus erhellendes) historisches Hintergrundwissen bietet.

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Foudre en bois du département de l’Aude – Wikimedia Commons

Im September 2008, mitten in den schlimmsten Wochen der Finanzkrise, beschließen die Regulierungsbehörden auf der ganzen Welt, Leerverkäufe vorübergehend zu verbieten. Bei Leerverkäufen handelt es sich um eine Handelsstrategie, mit deren Hilfe Händler aus Wertminderungen bei Finanzinstrumenten Gewinn schlagen können. Wenn man damit rechnet, dass ein Vermögenswert an Wert verliert, verkauft man ihn wieder. Um ein Wertpapier an den Käufer zu bringen, leiht man es sich einfach auf dem Markt. Zu einem späteren Zeitpunkt kauft man es, um es dem Verkäufer zurückzugeben. Wenn sich der Wert in der Zwischenzeit verringert hat, erzielt man einen Gewinn.

Das Wort “leer” weist darauf hin, dass der Händler etwas verkauft, was er gar nicht besitzt. Kurz gesagt geht es bei Leerverkäufen darum, mit einem Wertpapier zu handeln, was man de facto gar nicht besitzt, aber zu einem späteren Zeitpunkt durch eines ersetzen darf, das man erst noch kauft, um von der zwischenzeitlichen Wertminderung profitieren zu können.

Eine harmlose und zugleich gefährliche Technik, oder von der Ambiguität der Regulierungsbehörden

Leerverkäufe gibt es seit Jahrhunderten. Sie basieren auf einem einfachen Trick, der in vielen Bereichen der Wirtschaft genutzt wird. So verkaufen beispielsweise Weinhändler Weine, die sie noch gar nicht besitzen, und kaufen sie erst dann, wenn sie sie tatsächlich liefern müssen. In der Regel ist dies eine Möglichkeit, um seine Vorräte zu verwalten. In der Realität auf den heutigen Finanzmärkten warten die Leerverkäufer jedoch einfach darauf, dass der Preis eines bestimmten Produktes fällt. Das hat nichts mehr mit Vorräten zu tun.

Die Regulierungsbehörden sind sich vollkommen darüber im Klaren, dass Leerverkäufe gang und gäbe sind. In einem aus dem Jahre 2009 stammenden Bericht konstatierte die britische Aufsichtsbehörde Financial Service Authority (FSA): “”Wir haben es immer wieder deutlich gemacht, dass wir Leerverkäufe unter normalen Marktumständen als eine rechtmäßige Anlagetechnik betrachten. […] Leerverkäufe können die Effizienz der Preisbildungsprozesse verbessern, indem Anleger mit negativen Informationen, die keine Wertpapiere halten, anhand ihrer Informationen handeln können. Leerverkäufe können auch die Liquidität erhöhen, indem die Anzahl von potenziellen Verkäufern auf dem Markt vermehrt wird.‘‘

FSA fügte aber noch hinzu: “Vor allem in turbulenten Märkten können Leerverkäufe jedoch auch negative Auswirkungen haben, sowohl versehentlich als auch vorsätzlich; Informationsasymmetrien (wenn der eine über mehr Informationen als der andere verfügt) können in Hinsicht auf Leerverkäufe drei Probleme verursachen: Marktmissbrauch, Marktstörungen und Transparenzmangel.”. Dies ist eine relativ gängige Meinung bei den europäischen Regulierungsbehörden: An sich sind Leerverkäufe kein Problem, es sei denn, die Märkte sind instabil. In diesem Fall sollten Leerverkäufe vorübergehend verboten sein.

Dies wirft viele Fragen auf: Wie kann ein harmloses Produkt plötzlich gefährlich werden? Was ist ein turbulenter Markt? Ist es nicht so, dass Leerverkäufe gerade dann am sinnvollsten sind, wenn Marktpreise stark schwanken? Antworten darauf werden Sie in diesem Artikel nicht finden, aber es wird klar, dass eine solche Debatte bereits früher in der Finanzgeschichte geführt wurde und die Argumente – damals wie heute – fast die gleichen sind.

Möge das amerikanische Volk urteilen

Auf den frühen europäischen Finanzmärkten wurden Leerverkäufe von vielen Monarchen verboten. Aber eine viel ernstere Bedrohung folgte nach dem Schwarzen Donnerstag im Jahre 1929. Die Finanzmärkte damals ähnelten den heutigen Börsenplätzen bereits, und die US-Behörden zogen bereits Leerverkaufsverbote in Erwägung.

Zur damaligen Zeit hielt Richard Whitney, Vorsitzender der New Yorker Börse, eine Reihe von Reden, um die Vorzüge von Leerverkäufen zu verteidigen. Widerrede leistete ihm William R. Perkins, ein Rechtsanwalt, der sich für das Verbot von Leerverkäufen aussprach. Die Debatte, drei Reden von Whitney und die entsprechenden Antworten Perkins, wurden 1932 in einem Buch veröffentlicht. Es beginnt mit einem pathetischen Vorwort: “Möge das Volk der Vereinigten Staaten selbst sein Urteil über Leerverkäufe fällen”.

Whitney, der Verteidiger der Leerverkäufe, schnitt gleich zu Beginn ein wichtiges Thema an: “Der Fall der Wertpapierkurse ist nicht auf Leerverkäufe, sondern auf ungünstige wirtschaftliche Bedingungen zurückzuführen sowie auf den Verkauf von Wertpapieren, die direkt bzw. indirekt gehalten werden.‘‘ .In der Tat sind vermehrte Leerverkäufe ein Nebeneffekt und nicht die Ursache der negativen Entwicklung. Allerdings behauptet auch niemand, dass Leerverkäufe für jede Preisschwankung auf dem Markt verantwortlich zu machen sind. Die Frage ist vielmehr, inwieweit Leerverkäufe Preisbewegungen künstlich verstärken, die einzig und allein Spekulanten von nutzen sind.

Höhere Effizienz oder Manipulationsrisiko?

Whitney behauptet des Weiteren, dass Leerverkäufe eine stabilisierende Wirkung auf die Preise hätten: “Dies stimmt vor allem in Krisenzeiten, wenn andere Leute unsicher sind, ob sie kaufen sollen oder lieber nicht; dann sind es die Leerverkäufer, die jene Nachfrage aufrecht erhalten, die den Markt vor einem völligen Einbruch rettet”. Entgegen den Überzeugungen der Aufsichtsbehörden wären Leerverkäufe demnach äußerst nützlich … und zwar in Krisenzeiten. Tatsächlich wetten Leerverkäufer, wie übrigens fast alle Spekulanten, oft gegen die Tendenz auf dem Markt. Diese Strategie nennt sich Contrarian Investing.

Mit den Worten der heutigen Finanzlobbyisten: Leerverkäufe erhöhen sowohl die Effizienz als auch die Liquidität auf den Märkten, wodurch diese schneller wieder ihr Gleichgewicht finden und die Preisbildungsprozesse funktionieren. So schrieb beispielsweise der Europäische Bankverband, einer der bedeutendsten Branchenverbände, in seinem Beitrag zu einer Konsultation der Europäischen Kommission im Jahre 2010, dass Leerverkäufe zahlreiche “positive Effekte” haben. “Insbesondere tragen sie zu mehr Liquidität bei. In Zusammenhang damit reagieren die Märkte auch schneller auf neue Informationen.”. Nach dem Leerverkaufsverbot im Jahre 2008 reagierten auch die Banken sehr schnell, indem sie zahlreiche Studien veröffentlichten, die die Unwirksamkeit, wenn nicht sogar die Widersinnigkeit jenes Verbots belegen sollten.

Das Liquiditätsargument erwies sich als sehr nützlich für die Befürworter der Leerverkäufe, obwohl es nicht immer korrekt verwendet wurde. Im Falle der sogenannten “nackten“ CDS auf Staatsanleihen im Jahre 2009 hatten Händler Credit Default Swaps genutzt, d.h. Derivate, die Geld bringen, wenn der Anleiheemittent zahlungsunfähig wird, und spekulierten darauf, dass Staatsanleihen in der Eurozone an Wert verlieren würden. Je mehr die Anleihen verloren, desto mehr gewannen die CDS an Wert, auch für solche Händler, die gar keine eigenen Anleihen besaßen. In diesem Fall hatten Leerverkäufe nichts mit contrarian investing zu tun. Ganz im Gegenteil verschlimmerten Leerverkäufe die Schuldenkrise, um mit den CDS Gewinne zu erzielen. Derart Behauptungen, dass “nackte” CDS die Liquidität erhöhen und somit die Emissionskosten von Staatsanleihen der Mitgliedstaaten in der Eurozone verringern würden, sind in einem aus dem Jahre 2011 stammenden Fachbeitrag von Finance Watch widerlegt worden. Das Verbot besteht zwar weiterhin, jedoch ist es im Laufe der Zeit durch eine Vielzahl an Schlupflöchern ausgehöhlt worden. Wenn Sie das Thema interessiert, erhalten Sie weiterführende Informationen unter folgendem Link.

Aber zurück zu Whitneys Buch: Der Vorsitzende der New Yorker Börse argumentierte nicht gerade überzeugend, dass Leerverkäufe nichts mit ‘‘bear raiding‘‘ zu tun haben. Dabei handelt es sich um den Verkauf von Wertpapieren mit dem Ziel, die Kurse nach unten zu drücken. Er behauptet, kein Kapitalanleger halte einen signifikanten Marktanteil, daher ginge nur eine geringe Gefahr von bear raiding aus. Vergessen werden dabei jedoch die sowohl impliziten als auch expliziten Koordinierungsmechanismen sowie die Angriffe auf gefährdete Wertpapierbestände. Wie Perkins berichtet wurde dieser Fehler umgehend in einem Artikel in der New York Times vom 18. Oktober 1931 bemerkt und kritisiert.

Perkins geht auch auf die Risiken von Marktmanipulationen näher ein, wie sie die FSA feststellte. Dazu schrieb er: “Die Versuchung [von Leerverkäufen] begünstigt die Verbreitung von düsteren Prophezeiungen und geheimsnisumwobenen Gerüchten, die uns letztlich manipulieren und unsere Eigeninitiative schwächen”. Damals wie heute sind solche Nebeneffekte besorgniserregend, wobei sie nur schwer nachzuweisen und einzudämmen sind.

Eine Frage des Prinzips

Über die technische Debatte hinaus werden grundsätzliche politische Fragen aufgeworfen. Es geht letztendlich um die prinzipielle Frage, inwieweit eine solche gesetzliche Regulierung überhaupt vertretbar ist. Whitney war fest davon überzeugt, dass „Laissez-faire“ nur Gutes brächte und dass daher „das Verteidigen der Leerverkäufe nicht eine Meinungsfrage, sondern eine Frage des Prinzips“ sei.

Es würde hier eindeutig den Rahmen sprengen, auf die zahlreichen Artikel und Berichte zum Thema Leerverkäufe aus dem Jahre 2008 einzugehen. Jedoch werden diejenigen, die die Debatte verfolgt haben, festgestellt haben, dass die Ähnlichkeit zur Whitney-Perkins-Debatte von 1931/32 verblüffend ist. Wir können uns sicher sein, dass die gleichen Argumente auch in Zukunft wieder und wieder genannt werden, wie es seit dem Jahr 1929 der Fall ist.

Glücklicherweise hat die Finanzgeschichte mehr zu bieten als nur schnöde Zahlen und technische Details. Sie kann auch mit menschlichen Tragödien aufwarten: Richard Whitney, dessen Bruder George ein Top-Manager bei JP Morgan war, machte sich am 25. Oktober 1929 einen Namen, als er Aktien des Stahlproduzenten US Steel erwarb, um den Markt zu stabilisieren, und zwar am ersten Tag nach dem Schwarzen Donnerstag. Damit konnte er verhindern, dass der Crash noch weitere Kreise zog. Man muss es Richard hoch anrechnen, dass er die Richtigkeit seiner Theorien durch reales Handeln unter Beweis stellen wollte und dabei erhebliche finanziellen Risiken einging. Aber auch der Held von 1929 wurde Opfer seiner Charakterschwäche: 1938 wurde er wegen Veruntreuung verurteilt und verbrachte drei Jahre im New Yorker Sing-Sing-Gefängnis. Für den Richter war das auch eine Frage des Prinzips.

Fabien Hassan

Lektüreempfehlungen

Richard Whitney & William R. Perkins, Short Selling – For and Against, D. Appleton and Company, New York and London, 1932. (nur auf Englisch verfügbar)

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