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Mikrokredite in der EU

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Mikrokredite spielen nicht nur in Entwicklungsländern eine Rolle, sondern vermehrt auch in der europäischen Wirtschaft. Beleg dafür ist nicht nur der erste „Europäische Mikrofinanztag“ („European Microfinance Day“), der Anfang dieses Monats in Brüssel stattfand, sondern auch die lauter werdenden Forderungen nach einem rechtlichen wie politischen Rahmen.

Im folgenden Blogartikel nimmt Greg Ford den äußerst lebhaften, wenn auch wenig beachteten Mikrofinanzsektor in Europa unter die Lupe. Er geht dabei der Frage nach, ob sich daraus auch Erkenntnisse grundsätzlicher Art für die Kreditvergabe an kleine und mittlere Unternehmen (KMU) ziehen lassen – wohl wissend, dass Mikrokredite zwar keine wirkliche Alternative zur KMU-Finanzierung durch Bankdarlehen darstellen, aber zum Erreichen bestimmter politischer Ziele wie soziale Eingliederung teilweise durchaus hilfreich sein könnten.

Am 19. Oktober 2015 eröffnete die belgische Königin Mathilde feierlich den ersten europäischen Mikrofinanztag in Brüssel. Die königlichen Familien von Luxemburg und den Niederlanden hatten zuvor bereits ihre Unterstützung für Mikrofinanzinitiativen öffentlich gemacht. Das erstaunt, denn nicht viele Bereiche des Finanzsektors können von sich behaupten, dass sie königliche Unterstützung hätten. Doch der Mikrofinanzsektor ist anders, davon zeugten auch die zahlreichen Events im Anschluss an den Mikrofinanztag, durch die Mikrofinanzorganisationen auf alternative Finanzierungsformen aufmerksam machten, nicht nur in den Beneluxstaaten, sondern in über 20 europäischen Ländern.

Queen Mathilde bei der Eröffnungsfeier des “European Microfinance Day”, ausgerichtet vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss am 19. Oktober 2015. Bildquelle: EESC

Was ist Mikrofinanz?

Bei Mikrofinanz denken viele an Kleinstkredite in Entwicklungsländern, oft im Wert von nur ein paar Dollar, die beispielsweise durch die Grameen Bank in Bangladesch bekannt gemacht wurden.

In der Europäischen Union existiert eine technische Definition von Mikrokrediten: Kredite bis zu 25.000 Euro, die an kleine oder „soziale“ Unternehmen vergeben werden. Ziel ist es, die Finanzierungsengpässe zu schließen, die dadurch entstehen, dass Banken jene Kleinkredite oftmals als unrentabel ablehnen oder keine Darlehen an Unternehmer vergeben wollen, die keine nachweislichen Erfahrungen oder Sicherheiten vorweisen können. Daher hat Mikrofinanz sowohl etwas mit Unternehmertum und Wachstum als auch sozialer und finanzieller Inklusion zu tun. Aus diesem Grund erhalten Mikrofinanzinstitute auch öffentliche Finanzmittel aus einer ganzen Bandbreite an europäischen und nationalen Fördertöpfen, neben den privaten Finanzierungsquellen.

Eine Unternehmerin, die im Rahmen eines EU-Mikrokreditprogramms unterstützt wurde, hat beispielsweise eine lokale Tanzschule mithilfe eines Darlehens in Höhe von 25.000 Euro aufgebaut.

Núria Venturas “Escuela de Danza” in Barcelona wurde 2007 mit der Unterstützung von EUR 25.000 durch das spanische Mikrokreditinstitut MicroBank ins Leben gerufen. Bildquelle: EIF

Núria Venturas “Escuela de Danza” in Barcelona wurde 2007 mit der Unterstützung von EUR 25.000 durch das spanische Mikrokreditinstitut MicroBank ins Leben gerufen. Bildquelle: EIF

Mikrofinanzinstitute unterscheiden sich von Geschäftsbanken in erster Linie durch ihre Unternehmensleitbilder, in denen in zwei Dritteln der Fälle gesellschaftlicher Nutzen, Förderung von KMU oder Arbeitsplatzschaffung genannt werden. Kredit bedeutet für sie ein Gemeingut, so ist schließlich ihr Auftrag, und zudem ist es ein schnell wachsender Sektor, wie jüngste Zahlen belegen.

390.000 Kleinkredite

Bereits seit 2003 gibt es mehrere EU-Programme zur Förderung der Mikrokredite, die für gewöhnlich Finanzmittel sowie Kreditsicherheiten für berechtigte Mikrofinanzinstitute bereitstellen oder auch technische Hilfe bieten. Nach einigen Jahren erleben die Programme einen neuen Aufschwung: Laut einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des European Microfinance Network (EMN) gab es 2012/2013 insgesamt 150 Mikrofinanzinstitute in 24 europäischen Ländern (darunter 20 EU-Mitgliedstaaten sowie Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina, die große Mikrofinanzsektoren haben).

Bei den Kreditgebern handelt es sich größtenteils um Finanzinstitutionen, die keine Banken sind, sondern zum Beispiel Genossenschaften, Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen. Hier ein paar Beispiele: Fair Finance im Vereinigten Königreich, das Instituto de Crédito y Finanzas Región de Murcia in Spanien, die Association pour le Droit à l’Initiative Economique/ADIE in Frankreich (siehe Liste mit Beispielen aus anderen Ländern). Zwar gibt es auch ein paar wenige Banken wie die Erste in Österreich, die im Mikrofinanzsektor selbst tätig sind, die meisten investieren jedoch lieber nur Kapital oder sehen den Sektor nur insofern als interessant, als dass eventuell für die Zukunft ein paar profitable Kunden an Land gezogen werden können.

Die 150 Mikrofinanzinstitute haben im Jahr 2013 etwa 390.000 Kleinkredite an insgesamt 121.270 Kleinunternehmen vergeben, wodurch rund 250.000 Jobs entstanden sind. Die Gesamtsumme der Kredite lag in Höhe von gerade einmal 1,5 Milliarden Euro. Im Jahr 2011 waren es 1 Milliarde Euro. Im Vergleich zu den Vermögenswerten in den Bilanzen der europäischen Banken erscheint diese Summe lächerlich klein. Aber man sollte mit solchen Vergleichen vorsichtig sein: Zunächst einmal verfügen Mikrofinanzinstitute nicht über Derivate und Handelsaktiva im Wert von mehreren Billionen Euro. Auch sind weniger die Summen als die 121.270 UnternehmerInnen, die allein im Jahr 2013 von Mikrokrediten profitiert haben, ein viel besserer Beleg dafür, welchen positiven Einfluss dieser Sektor auf Arbeitsplätze und Wohlbefinden in der EU hat.

Neue Lösungen, wenn der Markt versagt

Marktversagen ist insofern mit dafür verantwortlich, dass sich der Mikrofinanzsektor überhaupt entwickelte, als dass die Kunden der Mikrofinanzinstitute oftmals nicht von traditionellen Bankdienstleistungen profitieren konnten:

Ein Marktversagen liegt im Bereich der Finanzierung kleinerer Unternehmen vor, da der Aufwand (und folglich die Kosten), der bei der Bewertung eines Kreditantrags betrieben werden muss, in keinem Verhältnis zum möglichen Gewinn steht.“ (European Investment Bank, Seite 101).

Zwar sollte die Kreditvergabe an kleine Unternehmen zu den normalen Tätigkeiten von Privatbanken gehören, allerdings konnte diese Lücke trotz einiger Bemühungen nicht geschlossen werden. Das Marktversagen ist in den Peripheriestaaten der Europäischen Union noch ausgeprägter, wo KMU teilweise noch höheren Zinssätzen und noch strengeren Kreditvergabebedingungen begegnen.

Bei der feierlichen Eröffnung des Europäischen Mikrofinanztags am 19. Oktober 2015 sprach der Luxemburgische Arbeitsminister Nicolas Schmit davon, dass das Vertrauen in Banken „erschüttert“ sei und rief dazu auf, als Ausgleich dafür das Engagement im Bereich der Mikrofinanz „deutlich zu vergrößern“, auch wenn unklar bleibt, wie genau das genau funktionieren soll, da es bei beidem um unterschiedliche Ziele geht.

Banken tun sich schwer mit den Mikrounternehmen, gerade weil sie so klein sind und die Personalkosten vergleichsweise hoch, und weil die wirtschaftlichen Vorzüge kaum als Bankengewinne verbucht werden können. Allerdings geht man davon aus, dass Mikrofinanzprojekte steuerliche und gesellschaftliche Vorteile bringen. Jeder Euro, der in Mikrofinanzinstituten investiert wird, generiert 3,6 Euro „soziale Gewinne“ – so berechnet von der Regierung des Vereinigten Königreichs mithilfe des SROI-Ansatzes („Social Return on Investment“, deutsch: „Sozialrendite“), siehe EESC.

Der Fall von Italien zeigt, wie wichtig der Sektor sein kann. In Folge der Finanzkrise sank die Zahl der KMU in Italien zwischen 2008 und 2013 um 5% (um 15% bei den kleinsten Unternehmen), während sich gleichzeitig die Arbeitslosigkeit beinahe verdoppelte (von 6,74% auf 12,19%, ILOstat).

Die italienische Wirtschaft ist vielleicht stärker abhängig von kleinen Unternehmen als viele andere Staaten (45,8% der Angestellten in Italien arbeiten in einem Betrieb mit weniger als 9 Angestellten, im EU-Durchschnitt sind es nur 29,1%, nach Angaben der EU-Kommission), jedoch ändert das nichts an der allgemeinen Erkenntnis: Das Marktversagen im Bereich der Kreditvergabe an KMU stellt ein echtes wirtschaftliches Problem dar.

Wenn dieses Marktversagen darüber hinaus zu Arbeitslosigkeit führt, dann kann es letztlich auch den sozialen Zusammenhalt gefährden, so Marianne Thyssen, als EU-Kommissarin zuständig für Soziales und Beschäftigung, während der Eröffnungsfeier am 19. Oktober 2015. Die Finanzkrise habe, so Thyssen, 23 Millionen EU-Bürger in die Arbeitslosigkeit gestürzt, über die Hälfte von ihnen mehr als ein Jahr lang. Die EU-Kommissarin sprach sich daher für einen Ausbau der Förderung des Mikrofinanzsektors aus.

Marianne Thyssen: “Indem wir Menschen, die Geschäftsideen, aber kein Kapital oder Sicherheiten haben, Finanzmittel zur Verfügung stellen, kann der Mikrofinanzsektor Arbeitssuchende in Arbeitsplatzschaffende verwandeln.“ Bildquelle: EESC

Der luxemburgische Arbeitsminister Schmit stimmte darin überein, dass der Mikrofinanzsektor gut für die EU-Wirtschaft sei, und berichtete, dass nach Ablauf von drei Jahren noch mehr Unternehmen, die Kredite von Mikrofinanzinstituten erhielten, im Geschäft seien als Start-Ups, die gewöhnliche Finanzierungsquellen zur Verfügung hatten.

Wir müssen unser Banken- und Finanzsystem neu denken. Ohne ein Rahmenkonzept, das auf soliden Werten beruht, kann unsere Gesellschaft und Wirtschaft nicht funktionieren“, sagte er.

Welche EU-Programme gibt es zur Förderung der Mikrofinanz?

Da vieles für Maßnahmen auf EU-Ebene im Bereich der Mikrofinanz spricht, wurden eine Reihe öffentlicher Programme ins Leben gerufen, die Finanzmittel, Sicherheiten und technische Unterstützung bieten. Dazu gehört der Europäische Sozialfonds, der Europäische Fonds für Regionale Entwicklung, der Europäische Investmentfonds, die gemeinsamen europäischen Mittel für kleinste und mittlere Unternehmen (Joint European Resources for Micro to Medium Enterprises, kurz JEREMIE; finanziert über Strukturfonds), das Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (CIP) und das europäische Mikrofinanzierungsinstrument PROGRESS. Weitere Programme zur Förderung von KMU:

  • COSME (Competitiveness of Enterprises and Small and Medium-sized Enterprises) 2014-2020 (löst das Rahmenprogramm für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation „CIP“ ab) – vergibt Kreditsicherheiten und Risikokapital für KMU-Fonds,
  • InnovFin-Programm (Horizon 2020) – vergibt Kredite und Garantien für innovative Geschäftsideen und F&E,
  • das ‘KMU-Instrument’ – vergibt Finanzmittel und Coaching für innovative KMU,
  • Kreatives Europa – vergibt KMU-Darlehen in der audiovisuellen Kultur-und Kreativwirtschaft,
  • EaSI (EU-Programm für Beschäftigung und soziale Innovation) – vergibt Mikrokredite in Höhe von bis zu 25.000 Euro an Kleinstunternehmen bzw. sozial schwache Gruppen und bis zu 500.000 für Sozialunternehmen,
  • ESI-Fonds (Europäische Struktur- und Investitionsfonds 2014-2020) – vergibt Kredite, Sicherheiten und Kapitalfinanzierung oder Fördermittel für Unternehmen,
  • die Europäische Investitionsbank, zu deren Initiativen der Helenos-Investmentfonds gehört, der Anfang Oktober 2015 von Adie International, dem Crédit Coopératif und anderen gestartet wurde und der Start-Ups unter den Mikrofinanzanbietern helfen soll, die keinen Zugang zu klassischen Finanzierungsquellen haben.

Private Finanzierung

Diese Programme helfen Mikrofinanzinstituten auf die Beine, jedoch machen öffentliche Gelder laut EMN-Studie nur rund ein Viertel der gesamten Finanzmittel aus. Der Privatsektor macht die Schwerstarbeit, was wiederum neue Probleme mit sich bringt. Die Gesetzgeber fangen gerade erst an, sich dieser Probleme bewusst zu werden.

Mikrofinanzinstituten, die nicht berechtigt sind Einlagen anzunehmen, und auch zu klein sind, um sich auf den internationalen Finanzmärkten zu refinanzieren, bleiben wenige Möglichkeiten: Sie sind möglicherweise von lokalen Finanzmärkten, Banken oder speziellen Anlageninstrumenten für den Mikrofinanzsektor abhängig. Da es keinen klaren gesetzlichen Rahmen gibt, kann es jedoch zu Problemen führen, wenn der Sektor zu sehr von einigen wenigen speziellen Geldtöpfen abhängig ist, dann nämlich, wenn sich beispielsweise die Marktbedingungen ändern oder eine oder mehrere Geldquellen von heute auf morgen wegfallen.

Eine weitere Gefahr bergen die unterschiedlichen nationalen Regelungen insofern, als dass sie teilweise Banken gegenüber Mikrofinanzinstituten begünstigen und letztere an diesen Regelungen kaum etwas ändern können. Ohne eine Verbesserung des gesetzlichen Rahmens wird sich der Mikrofinanzsektor nicht so einfach von der Abhängigkeit von EU-Geldern lösen können.

Lehren für die KMU-Finanzierung

Die Geschäftsmodelle einiger Banken sind kaum für KMU-Finanzierung geeignet, insbesondere die der großen Universalbanken mit ihren Aktionärsinteressen. Experten haben viele Gründe dafür ausgemacht, zum Beispiel dass die Kreditvergabeentscheidung dezentralisiert wurde, dass Kreditwürdigkeitsprüfungen gegenüber engen Kundenbeziehungen bevorzugt werden, dass sich Too-big-to-fail-Banken eher auf Handelsaktivitäten fokussieren, dass lieber finanzielle statt wirtschaftliche Risiken eingegangen und sehr liquide Finanzprodukte gegenüber langfristigeren Krediten sowie die Refinanzierung über die unberechenbaren Finanzmärkte bevorzugt werden.

In einigen wenigen Fällen haben die Banken tatsächlich entgegen der Interessen von KMU gehandelt; bei diesen Skandalen ging es meist um missbräuchliche Verkäufe von Swaps oder erzwungene Umstrukturierungen (die Aktivitäten der berühmt-berüchtigten „Global Restructuring Group“ der Royal Bank of Scotland warfen im englischen Parlament die Frage danach auf, ob nicht KMU absichtlich in die Pleite geführt wurden, um Gewinne bei der Liquidierung einzufahren). Glücklicherweise handelt es sich hierbei jedoch um Ausnahmen!

Wenige dieser Probleme sind zutreffend für Mikrofinanzinstitute, die sich fast ausschließlich auf die Kreditvergabe an Kleinstunternehmen spezialisiert haben und meist auch einen sozialen Auftrag verfolgen.

Die Äußerungen des luxemburgischen Arbeitsministers Schmit anlässlich des Europäischen Mikrofinanztags legen nahe, dass die Gesetzgeber sich dessen bewusst sind und den Sektor fördern wollen. „Wir müssen an Größe zulegen“, sagte er.

Im Allgemeinen lässt sich daraus vielleicht auch schließen, dass Gesetzgeber auch jene Institutionen bei ihrem Hilfsprogramm für KMU ins Auge fassten sollten, deren Geschäftsmodell und Auftrag bereits KMU und Arbeitsplatzschaffung umfasst.

Folglich sollte man vielleicht nicht zu viele Hoffnungen auf die Ideen von Investmentbanken setzen, zum Beispiel Verbriefung wiederzubeleben, und stattdessen eher jene Banken fördern, die sich wirklich ihren Interessensgruppen widmen, oder kleinere Banken, die sich auf traditionellem Wege refinanzieren, über genügend Eigenkapital verfügen und enge Kundenbeziehungen pflegen, und natürlich auch den Mikrofinanzsektor selbst.*

Die Stärke des Mikrofinanzsektors sind seine Werte und Ideale, und deshalb ist er so erfolgreich“, sagte Schmit. Vielleicht können ähnliche Stärken auch in anderen Institutionen gefördert werden.

* Mehr zu den Vorschlägen von Finance Watch, damit Banken ihre Kreditvergabe an KMU weiter ausbauen, finden Sie in unserem kürzlich veröffentlichten Beitrag zur Konsultation der DG FISMA über die möglichen Auswirkungen von CRR und CRD IV auf die bankenbasierte Finanzierung der Wirtschaft.

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