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Aus der Geschichte lernen #11 – Die Monacokrise 1962/63 und die Emanzipierung der Steueroasen

Financial self-defense
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Über den Autor

Fabien ist Analyst bei 2° Investing Initiative, einem Think-Tank mit Sitz in Paris. Fabien hat einen Universitätsabschluss in Wirtschaftswissenschaften an der Ecole Normale Supérieure de la rue d’Ulm, in Paris gemacht. Er studierte außerdem an der Sciences-Po Paris, Princeton University, und die Freie Universität Berlin. Er schreibt auch einen eigenen Blog.

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Auf dem Höhepunkt der Spannungen zwischen Frankreich und Monaco in den 1960er Jahren kam es gar zu einer Blockade des kleinen Stadtstaates, der damals von Prinz Rainier und Grace Kelly regiert wurde. Die Absurdität dieser Episode inspirierte Filmemacher, Fürsprecher von Steuerreformen und Beobachter des globalen Finanzwesens gleichermaßen. In diesem Artikel werden die Ursprünge der Krise ergründet und zudem Vergleiche aufgestellt, wie große Staaten vor und nach der Globalisierung der Kapitalströme mit Steueroasen umzugehen pflegten.

Ein Kampf für Menschenrechte oder für Steuerprivilegien?

Im Jahr 1963 kam Ostern für die kleine Stadt Monte Carlo wie gerufen. Tags zuvor hatte die französische Regierung sich offiziell dazu entschieden, jene Blockade wieder aufzulösen, die sie vor sechs Monaten, im Oktober 1962, begonnen hatte. Die französischen und italienischen Touristen konnten also das Osterwochenende in Monaco verbringen. Polemiker, die vehement den Ausschluss des AS Monaco von der französischen Fußballliga forderten, verstummten – zumindest für einen Augenblick – und etwas Normalität kehrte zurück.

Es ist schon faszinierend, wenn man sich vor Augen führt, wie Frankreich damals gegenüber einem Land mit 23.000 Bewohnern (Girardeau, 1962) mit den Muskeln spielte. 2014 hat Olivier Dohan diese Geschichte auch in den Mittelpunkt seines Films „Grace of Monaco“ mit Nicole Kidman gestellt. Die Prinzessin Grace Kelly wird dort als Symbol des Widerstands eines unterdrückten Volkes dargestellt, das von den Launen des General de Gaulle abhängig war.

Nostalgisch blicken die heutigen Kämpfer für mehr Steuergerechtigkeit auf die Monacokrise zurück (Le Monde, 2013). Ging es bei dem Widerstand Prinz Rainiers gegen Frankreich denn um eine Frage der Souveränität und Unabhängigkeit von einem mächtigeren Land oder zeigt die Blockade vielmehr, dass Frankreich damals bereit war, für seine Werte in Bezug auf Steuergerechtigkeit einzustehen?

Realpolitische Spannungen, eine Scheinblockade

Im Gegensatz zum dramatischen Ton in Oliver Dahans Film war die Blockade in Wahrheit recht lächerlich. Im Oktober 1962, auf dem Höhepunkt der Kubakrise, stand die Welt kurz vor einem Atomkrieg zwischen den USA und der UdSSR. So war es wenig überraschend, dass die französische Zeitung Le Monde am 13. Oktober 1962 die Blockade als eine Art „großen Lausbubenstreich“ bezeichnete. Sechs französische Zollbeamte blockierten die Fahrbahn, was zu enormen Staus auf der Küstenstraße nach Nizza führte. Zwar konnte jeder weiterhin die Grenze überqueren, die Wartezeit jedoch brachte Unannehmlichkeiten. Monaco ist gerade einmal 2,02 km2 groß, daher müssen die Monegassen sehr oft über die Grenze fahren. So wurden 1962 beispielsweise öffentliche Busse am Ende des Tages auf Parkplätzen in Frankreich abgestellt, um ein wenig Platz zu schaffen.

Tatsächlich dauerte die echte Blockade gerade einmal ein paar Stunden (Montebourg & Peillon, 2000). Die Verschlechterung der Beziehung mit Frankreich hatte jedoch wirtschaftliche Folgen. Es gab beispielsweise ein kleines, aber florierendes Pharmaunternehmen mit 350 Angestellten in Monaco. In der Presse gab es Schätzungen, dass rund ein Drittel der Beschäftigten im November 1962 ihre Arbeit verloren hatten (Mourlane, 2005). Dennoch verfügte der Staat weiterhin über ausreichend Reserven, um dem Druck noch eine Zeit lang standzuhalten.

Auch wenn die Geschichte zunächst lächerlich erscheint, so lohnt es durchaus sich eingehender mit ihren Details zu beschäftigen. Was sich zwischen Frankreich und Monaco in den 1960er Jahren abspielte, kann durchaus erhellend sein für die Diskussionen zur Steuerumgehung im 21. Jahrhundert.

Die politischen Spannungen mit Frankreich begannen bereits 1959, als Prinz Rainier beschloss, die Verfassung außer Kraft zu setzen. Es gab einige diplomatische Versuche, Unterstützung von den USA zu erhalten. Das machte insofern Sinn, da Frankreich unter de Gaulle immer antiamerikanischer wurde.

Die Bewohner von Monaco waren bereits seit 1869 von der direkten Besteuerung ausgenommen (Fürstentum von Monaco, 2010). Nach dem 2. Weltkrieg wurden die Steuerausnahmen noch weiter ausgedehnt und für Monaco begann eine Blütezeit (Montebourg & Peillon, 2000). Zusätzlich flossen in Folge der Entkolonialisierung große Mengen an Kapital zurück nach Europa. Davon profitierte insbesondere Monaco (Bézias, 2007).

Die Krise von 1962 wurde durch eine recht technische Vorschrift ausgelöst, die Aktienverkäufe unter bestimmten Bedingungen für nichtig erklärte (Mourlane, 2005). Sie wurde deshalb eingeführt, weil sie es dem Staat Monaco erlaubt hätte, wieder mehr Einfluss auf den Radiosender Radio Monte-Carlo (RMC) und den Fernsehsender Télé Monte-Carlo (TMC) ausüben zu können. Beide Rundfunkanstalten hatten auch ihren festen Platz auf dem französischen Markt (Bézias, 2007). Die französische Regierung war zu diesem Zeitpunkt über Tochtergesellschaften Hauptaktionär beider Sender. Das hatte politische Brisanz: Denn zur Zeit des Algerienkriegs kontrollierte Frankreich seine Medien aufs Schärfste, und Sendeanstalten aus Monaco oder Luxemburg (RTL) genossen wesentlich mehr Freiheiten, darunter auch das Recht Werbung zu schalten. Amüsant ist dabei, dass die Sendeanlagen von RMC und TMC auf einem benachbarten Hügel standen… in Frankreich.

Rainier warf seine Pläne, mehr Kontrolle über die RMC zu erlangen, zwar schnell wieder über Bord, jedoch kam dieses Eingeständnis zu spät. Frankreich fühlte sich bereits gekränkt und verlangte die direkte Besteuerung der Exportfirmen sowie französischer Bürger, die in Monaco lebten. Warum sträubte sich das Fürstentum so sehr, direkte Steuern einzuführen?

Die Strategie eines Zwergstaates

In einem Interview mit France Soir sagte Prinz Rainier: “Direkte Besteuerung würde an den Fundamenten unserer Souveränität rütteln.“ (zitiert nach Mourlane, 2005). Diese Aussage ist erstaunlich: Historiker haben nachgewiesen, dass moderne Staaten darauf gründen, selbst Steuern erheben und Schuldtitel ausgeben zu können, die wiederum durch künftige Steuereinnahmen gedeckt sind. Auch die privaten Finanzmärkte brauchen zirkulierende liquide und sichere Staatsanleihen, um zu wachsen. Das sei ein wichtiger Schritt zur wirtschaftlichen Weiterentwicklung (North & Weingast, 1989). Allerdings trifft dies zwar für das England des 17. Jahrhunderts zu, doch für einen Zwergstaat wie Monaco weniger.

Im Gegensatz dazu, wie auch Rainier betonte, zeigt sich die Souveränität eines Kleinstaates vor allem dann, wenn sein Steuersystem sich von dem seiner Nachbarn deutlich unterscheidet. Da es zwischen Frankreich und Monaco keine wirklichen Grenzen gibt, geraten Unternehmen in die Versuchung, ihre Aktivitäten dorthin auszulagern, wo die Steuern niedriger sind.

Monaco ist jedoch zu klein, um große Produktionsstätten zu beherbergen, noch nicht einmal für ausreichend Büroräume ist Platz. Unternehmen können ihre Aktivitäten also gar nicht nach Monaco verlagern. Daher sind Finanzströme für Kleinstaaten strategisch viel interessanter. Kapitalertragssteuern für Einzelpersonen und Firmen müssen so niedrig wie möglich gehalten werden, will man eine „kritische Masse“ erreichen. Für Nachbarmächte, wie in diesem Fall Frankreich, ist ein solches Vorgehen nur solange hinnehmbar, wie ihnen keine eigenen finanziellen Mittel entzogen werden.

Mittelgroße Staaten haben da bereits eine andere Strategie. Irland beispielsweise will mit sehr niedrigen Unternehmenssteuern Großkonzerne wie Dell oder Google anlocken. In der irischen Presse war zu lesen, dass Google rund 2.500 Angestellte in Dublin zählt. Auch wenn das im Verhältnis zur irischen Wirtschaft gesehen eher eine geringe Anzahl ist, so wäre es für Monaco bereits zu viel.

Im schlimmsten Fall, d.h. wo am meisten Raum zur „Steueroptimierung“ gegeben ist, haben mittelgroße Staaten so niedrige Unternehmenssteuern, dass sich große Firmen dort ansiedeln, und Kleinstaaten dermaßen geringe Kapitalsteuern, dass sich die Profite dort kumulieren.

Die Komplexität einer Großmacht

Die Krise zwischen Frankreich und Monaco kam zu einem – vorläufigen – Stillstand im Jahr 1963. Der damals erreichte Kompromiss ist im Großen und Ganzen noch heute in Kraft (die letzte wesentliche Änderung gab es 2003 mit einem neuen bilateralen Steuerabkommen). Franzosen mit Wohnsitz in Monaco haben keine steuerlichen Vorteile mehr: Sie müssen ihre Einkommenssteuer in Frankreich abführen. Das ist keine Kleinigkeit, denn es leben immer noch mehr Franzosen als Monegassen in Monaco, auch wenn die Zahlen rückläufig sind (Fürstentum von Monaco, 2010). Ähnlich ergeht es auch Unternehmen, die mehr als 25% ihrer Gewinne außerhalb Monacos erwirtschaften; auch sie werden direkt besteuert. Bis heute sind dies die beiden großen Ausnahmen vom Grundprinzip, dass keine direkten Steuern erhoben werden.

Der Kompromiss zwischen den beiden Ländern ist exemplarisch für die Beziehungen, die große Länder zu „ihren“ Steueroasen pflegen. Frankreich akzeptierte, ja unterstützte sogar die Existenz eines Offshore-Finanzplatzes direkt an seiner Grenze – und zwar unter der Bedingung, dass französische Bürger und Unternehmen, die in Frankreich Geschäfte machten, Steuern in Frankreich bezahlen mussten. So lange es sich um Ausländer aus Drittländern handelte, die nach Monaco kamen und dort zur wirtschaftlichen und kulturellen Dynamik an der französischen Riviera beitrugen, war Steuergerechtigkeit kein Thema.

Wohlbekannt ist auch die Tatsache, dass fast jedes große Land einst ein Steuerparadies „unter seiner Kontrolle“ hat: Was die Jungfrauinseln und Jersey für das Vereinigte Königreich sind, das sind Monaco und Andorra für Frankreich, Luxemburg für Deutschland und die Europäische Union, das ist Delaware für die USA und Hong Kong für China etc. Darum ist der Kampf gegen Steueroasen auch geopolitisch gesehen so ein schweres Unterfangen.

In der Tat hatten die größeren Staaten in den 1960er Jahren alle ein starkes Interesse daran, Kontrolle über ein Territorium mit niedrigen Steuern zu haben. Denn dieses lockte Finanzströme an, die wiederum der Wirtschaft zugutekamen. Die großen internationalen Kapitalströme zwischen Industrieländern wurden damals kontrolliert, daher hielt sich auch die Steuerhinterziehung noch in Grenzen.

Mit der fortschreitenden Digitalisierung und Globalisierung sowie der Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen hat sich das Blatt seither gewendet. Steueroasen haben sich von ihren großen Schutzpatronen emanzipiert. Inzwischen verzeichnen alle große Staaten Einbußen bei den Steuereinnahmen aufgrund von Steuerparadiesen. Niemand will jedoch der Erste sein, der vor der eigenen Haustür kehrt. Vorbildliches Verhalten ist nicht gerade die bevorzugte Taktik bei internationalen Verhandlungen.

Die übrigen Monacos

Ist der Fall von Monaco letztlich zu außergewöhnlich, um bedeutsam zu sein? Andere Staaten von vergleichbarer Größe spielen bei den internationalen Finanzströmen sehr wohl eine maßgebliche Rolle. Gerade einmal 25.000 Menschen wohnen auf den britischen Jungferninseln. Jersey ist mit knapp 100.000 Einwohnern schon größer. Auf den Cayman Islands, die häufig als einer der wichtigsten Offshore-Finanzplätze genannt werden, leben lediglich 50.000 Menschen, grob geschätzt. Ganz wie in Schottland, wo es mehr Schafe als Einwohner gibt, haben auch die Steueroasen meistens mehr Kapitalgesellschaften als Bewohner.

Per Definition ist hinterzogenes Geld in erster Linie Geld, das dem Staat vorenthalten wird. Wie hoch sich der Schaden beläuft, ist jedoch nur schwer zu ermitteln. Ein Versuch besteht darin, die Unstimmigkeiten zwischen den offiziellen Zahlungsbilanzen aller Länder weltweit zu ermitteln und diese Unstimmigkeiten dann der Steuerflucht zuzuschreiben. Das Ergebnis ist erstaunlich: 5.800 Milliarden Euro werden in Steuerparadiesen versteckt, was 130 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen für die Staaten bedeutet, und zwar jährlich (Zucman, 2003).

Zucman empfiehlt, direkte Handelssanktionen gegen Staaten zu verhängen, die sich nicht kooperativ zeigen. Diese Maßnahme könnte als zu radikal und kaum praktikabel erscheinen (Chavagneux, 2013). Es gibt auch Versuche, auf diplomatischem Wege eine Lösung zu finden, die auch das internationale Handelsrecht berücksichtigen würde. Solche Versuche hatten sich bereits in der Vergangenheit als wirkungsvoll erwiesen.

Im Jahr 2009 hat Monaco eine Vereinbarung unterzeichnet, wonach sie künftig mit OECD-Mitgliedstaaten kooperieren will. Daraufhin wurde es von der OECD-Liste der „unkooperativen Steueroasen“ gestrichen. Dass jetzt kein Land mehr auf dieser Liste steht, kann man positiv auslegen: Jeder einzelne Staat auf der Welt kann durch internationalen Druck zur Kooperation gezwungen werden. Oder man kann es eher kritisch sehen, dass die OECD den Begriff der Steueroasen sehr eng definiert.

Auch sind nicht nur kleine Inseln oder Zwergstaaten Steuerparadiese. Im Jahr 2013 veröffentlichte das Netzwerk Steuergerechtigkeit (auf Engl. Tax Justice Network) erneut einen „Schattenfinanzindex“, der die verschiedenen Länder/Gebiete je nach Grad ihrer Geheimhaltung und der globalen Gewichtung ihrer Aktivitäten auf eine Rangliste setzt. Interessanterweise stand die Schweiz damals auf dem ersten Platz. Im gleichen Jahr hat die OECD auf ein Abkommen hingewirkt, um dem Bankgeheimnis ein Ende zu setzen.

Noch bemerkenswerter: Luxemburg und Deutschland, zwei Gründungsmitglieder der Europäischen Union, waren ebenfalls unter den Top Ten. Wenn also etwas gegen die Intransparenz des internationalen Finanzwesens unternommen werden soll, dann muss es von diesen mächtigen Staaten ausgehen.

Hoffnung für die Zukunft: Initiativen der OECD und der Europäischen Union

Es gibt zwei Arten von Steuervermeidung: Steuerhinterziehung ist krimineller Natur, es geht um geheime Geldtransfers und offensichtlichen Betrug. Internationale Kooperationsabkommen wurden geschlossen, um Licht ins Dunkel zu bringen und um Richtern die Einsicht in bestimmte Daten zu ermöglichen. Die andere Art von Steuervermeidung ist wesentlich schwieriger zu bekämpfen: Zum Zweck der Steueroptimierung transferieren Firmen und auch Privatpersonen ihr Geld außer Landes auf Offshore-Finanzplätze, um Steuern zu umgehen. Normalerweise haben die Steuerbehörden Zugriff auf alle Informationen, jedoch können sie kaum eindeutige Gesetzesverstöße nachweisen.

Mithilfe spezialisierter Steuerberatungsfirmen haben multinationale Konzerne ein sehr ausgeklügeltes System geschaffen. Üblicherweise werden immaterielle Güter wie beispielsweise Urheberrechte auf Firmen in Niedrigsteuerländern übertragen, die jedoch nur auf dem Papier existieren. Einnahmen werden dann dorthin überwiesen, als eine Art Lizenzgebühr. Diese Vorgehensweise findet man auch bei materiellen Gütern. Verrechnungspreise sind gängiges Mittel zur Steuerumgehung.

Einem Land allein fällt es in den meisten Fällen schwer nachzuweisen, dass es sich um ein illegales System handelt. Die Weitergabe von Urheberrechten ist gängige Praxis, und nur Missbrauch ist strafbar. Um beurteilen zu können, ob gewisse Praktiken legal sind oder nicht, muss man die weltweiten Tätigkeiten eines Unternehmens überblicken. Darüber hinaus schrecken Staaten oft davor zurück, sich heimische Firmen vorzuknöpfen, über die sie noch am ehesten Kontrolle hätten. Denn das könnte mögliche Wettbewerbsnachteile bringen.

Umso wichtiger ist es, überstaatliche Organisationen einzubinden. Im Jahr 2014 hat die Europäische Kommission eine Untersuchung begonnen, um herauszufinden, inwieweit Preisverrechnungsabkommen die Unternehmensbesteuerung von Apple (Irland), Starbucks (Niederlande) und Fiat (Luxemburg) beeinflussen. Nimmt man das Wettbewerbsrecht als rechtliche Grundlage, dann ist das eine bemerkenswerte Entwicklung: Jahrelang hatte die Europäische Union das Wettbewerbsrecht dazu genutzt, um die Abschaffung von Vorschriften zu rechtfertigen, jetzt rückt der unfaire Steuerwettbewerb zwischen Mitgliedstaaten endlich ins Blickfeld. Steuerausnahmen können genauso gut als „staatliche Beihilfe“ bewertet werden. Folglich gilt es einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, um Staaten davon abzuhalten, heimischen Firmen auf Kosten anderer Mitgliedstaaten künstliche Vorteile zu verschaffen. Schließlich befinden sich alle Länder in einer Zollunion, in der die Einfuhr bestimmter Waren an den Grenzen weder aufgehalten noch versteuert werden kann. Voraussichtlich im Frühjahr 2015 werden mehr Informationen zu der Untersuchung bekannt gegeben.

Ebenfalls große Hoffnungen ruhen auf dem „Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung“ (auf Engl. Base Erosion and Profit Shifting – BEPS), der 2013 von der OECD vorgestellt und zuvor von den G20-Staaten in die Wege geleitet wurde. BEPS betrifft „Steuerplanungsstrategien, bei denen Lücken und Diskrepanzen im Steuerrecht ausgenutzt werden, um Gewinne künstlich in Regionen zu verlagern, in denen kaum oder gar keine Steuern erhoben werden, kaum oder gar keine wirtschaftliche Aktivität stattfindet und daher kaum oder gar keine Unternehmenssteuer anfällt.“ Diese Schwerpunktsetzung auf legale Praktiken, die aufgrund von Schlupflöchern möglich sind, geht wesentlich weiter als der Kampf gegen nicht kooperationswillige Steuerparadiese und Geldwäsche. Hier geht es um das große Geld.

Die OECD ist der Auffassung, dass „die nationalen Steuervorschriften in einer immer enger vernetzten Welt nicht mehr mit den weltweit agierenden Unternehmen, dem freien Kapitalverkehr und der schnell wachsenden digitalen Wirtschaft haben mithalten können. Dadurch sind Lücken zur doppelten Nichtbesteuerung entstanden, indem Unternehmen ihre Aktivitäten in Länder auslagern, in denen kaum oder gar keine Steuern anfallen. Letztlich werden so die Gerechtigkeit und Integrität der Steuersysteme untergraben.“ Diese Aussage mag zunächst trivial erscheinen. Bei genauer Betrachtung bedeutet dies jedoch einen deutlichen Fortschritt, und es ist ein Beleg für die wachsende Erkenntnis, dass den Regierungen auf diese Weise große Einnahmen entgehen.

In einem multipolaren und offenen Wirtschaftssystem ohne nennenswerte Kapitalverkehrskontrollen nützt es wenig, sechs Soldaten an die Grenze von Monaco zu stellen, wie damals in den 1960er Jahren. Die internationale Zusammenarbeit klappte bislang in Steuerfragen noch nicht gut. Jedoch könnten sich viele Industrienationen angesichts extrem knapper öffentlicher Haushalte in Europa und in den USA bald dazu gezwungen sehen, Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, dass weiterhin so viel Kapital in Steueroasen fließt. Weitere OECD-Arbeitsgruppen zur Doppelbesteuerung sind sicherlich weniger romantisch als die Belagerung von Prinzessin Grace Kelly, allerdings gilt weiterhin, was de Gaulle im Jahr 1944 sagte: „Selbst die edelsten Prinzipien dieser Welt sind nur dann etwas wert, wenn ihnen Taten folgen.

Fabien Hassan

Literatur

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