Seit seiner Gründung hat sich Finance Watch vor allem darum bemüht, die Reformagenda in der EU zu beeinflussen, und hat dabei einige maßgebliche Erfolge erzielt (siehe Jahresbericht 2013). Wie auch einige andere Befürworter von Reformen des europäischen Finanzsystems ist Finance Watch der Überzeugung, dass die Finanzmarktprobleme der 2000er Jahre das Ergebnis gezielter Deregulierung war, welche seit den 1970er Jahren – und in den 1990er Jahren sogar noch verstärkt – in Europa und den Vereinigten Staaten betrieben wurde. Dementsprechend konzentrierte sich Finance Watch bei seiner Arbeit auf die Welle der Regulierungsmaßnahmen in Folge der Finanzkrise, um die neuen Finanzmarktvorschriften schrittweise zu verschärfen und zu verbessern.
Aber was ist mit den Reformvorschlägen, die nicht auf der legislativen Agenda standen? Eine Gruppe von Ökonomen und alarmierter Bürger weltweit glaubt, dass das gegenwärtige Geldsystem grundlegende Mängel aufweist und das weiterreichende Reformen als jene, die auf der „offiziellen“ Agenda stehen, nötig sind. Ihre Meinungen über den Nutzen einiger Maßnahmen gehen teilweise auseinander, zum Beispiel was höhere Eigenkapitalanforderungen angeht, und manche sind sogar der Ansicht, dass unser Geldsystem generalüberholt werden muss, will man die Auswüchse des modernen Finanzwesens in den Griff bekommen. In den vergangenen zwei Jahren zogen derartige Debatten sogar hochrangige Bänker, Ökonomen und dank des Internets auch viele Bürger in ihren Bann. Dieser Blogartikel befasst sich also mit einem Thema, von dem eine wachsende Zahl von Menschen der Meinung ist, dass es auf der offiziellen Reformagenda stehen sollte: die Reform des Geldsystems.
Die Rolle des Geldes in der Volkswirtschaft
Die etablierte Wirtschaftslehre, eine Wissenschaft, die sich mit Preisen, Wohlstand und Produktion beschäftigt, schreibt dem Geld im Grunde genommen keine große Bedeutung zu. Was ein Paradox zu sein scheint, versteht sich am besten als großer wissenschaftlicher Entwicklungsschritt im Vergleich zur vorherrschenden Theorie des 16. und 18. Jahrhunderts: dem Merkantilismus. Merkantilisten neigten dazu, Geld und Wohlstand in ein enges Verhältnis zu setzen und empfahlen den Herrschenden daher, so viel Geld wie möglich anzuhäufen. Das führte zu einer Politik, die darauf ausgerichtet war, Außenhandelsüberschüsse zu erzielen, selbst wenn dies auf Kosten nationalen Wachstums geschah.
Als Gegenreaktion entwickelten die Begründer der modernen Wirtschaftslehre (François Quesnay, Adam Smith, Jean-Baptiste Say, David Ricardo, John Stuart Mill) eine Theorie, wonach das Geld als eine Art „Schleier“ verstanden wurde, den es zu lüften galt. Sie waren der Meinung, dass die Wirtschaft am besten als ein System des Wertaustausches verstanden werden sollte und sahen im Geld ein bloßes Tauschmittel. Theoretisch ist der Tauschhandel vollkommen ausreichend; und Geld ist nur deshalb vonnöten, weil der milliardenfache Austausch von Waren praktisch unmöglich ist.
In den 1970er Jahren entwickelten die Gegner des Keynesianismus auf dieser Grundlage die sogenannte „quantitative Geldtheorie“. Vereinfacht gesagt lautet die Grundannahme dieser Theorie, das jedwede Politik, die sich auf eine Ausweitung des Geldvolumens stützt, langfristig zum Scheitern verurteilt ist: Mathematisch betrachtet würden sich Preise und Löhne ebenfalls verdoppeln, wenn das Geldvolumen verdoppelt würde, und am Ende wäre niemand reicher als zuvor. Man könnte sogar verarmen aufgrund der destabilisierenden Wirkung der Inflation. Monetarier sorgen sich deshalb sehr darum, die Inflation in Zaum zu halten und verwenden große Mühen darauf, die Zinssatzentscheidungen von Zentralbanken zu analysieren.
Die Unterscheidung zwischen Geld und Wohlstand war ein entscheidender Schritt für die Wirtschaftslehre. Sie berücksichtigte die Realität des Warenaustauschs, wie sie auf dem Markt stattfindet. Das Problem, das sich aus dieser Unterscheidung ergab, lag darin, dass Makroökonomen, darunter jene der Zentralbanken, Modelle zu entwickeln begannen, die das Geld und seine Implikationen für die Wirtschaft außer Acht lassen (eine eingehende Analyse dieses Problems findet sich zum Beispiel in diesem Artikel des IMF-Chefökonomen Olivier Blanchard aus dem Jahre 2010). Aber die Finanzkrise mit ihrem „Verschuldungsboom“ gefolgt von einer Kreditklemme diente als Mahnung dafür, dass Geld sehr wohl eine Bedeutung hat. Selbst wenn man dem Konzept Glauben schenkt, dass Veränderungen des Geldvolumens langfristig von Preisanpassungen ausgeglichen werden, haben Geldströme, je nachdem, wie und wo sie in die Wirtschaft einfließen, unmittelbare und sehr reale Folgen, die es zu berücksichtigen gilt.
Wer sind die Befürworter einer Geldreform?
Die Reform des Geldsystems ist ein spannendes Thema, weil es internationale Beziehungen betrifft, es um Zahlen in Billionenhöhe geht und die Möglichkeit besteht, die Welt durch einfache Reformen grundlegend zu verändern. Es stellt auch das etablierte Wirtschaftsdenken in Frage, was es schwierig macht, dass es von „renommierten“ Fachzeitschriften wahrgenommen wird.
In der Vergangenheit fanden sich unter den Befürwortern einer Geldreform Personen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen: von Verschwörungstheoretikern über „Goldnostalgiker“ bis hin zu hoch anerkannten Akademikern. Ihnen gehörten unter anderem Befürworter für die Rückkehr zum Goldstandard an, so auch Steve Forbes, dem US-Republikaner und Chefredakteur des Forbes Magazins, und Lewis Lehrman, der zusammen mit dem führenden republikanischen Politiker Ron Paul in den 1980er Jahren ein Buch verfasste, in dem sie dafür plädierten, dass das Geld nicht vom realem Warenwert entkoppelt werden sollte. Aber in der Regel fällt es ihnen schwer zu begründen, warum Gold als allgemeingültiger Standard dienen sollte, obwohl sich die erheblichen Unterschiede in Verfügbarkeit und Preis des Goldes in der Vergangenheit als verehrend für das Geldwesen entpuppt haben.
Andere Gruppierungen haben sich vor allem mit dem internationalen Geldsystem beschäftigt, welches vom wichtigsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, John Maynard Keynes, nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde. Der Aufbau des Bretton-Woods-Systems war so anspruchsvoll, dass es ihn sein Leben kostete. Allerdings scheiterte Keynes darin, die Vereinigten Staaten von seinem Vorhaben zu überzeugen und sein Programm ganzheitlich umzusetzen, weshalb ein Teil seines Vermächtnisses unvollendet blieb. Beispielsweise wollte er eine Art internationale Währung einführen, welche unabhängig von Staaten und erst recht von der Politik sein sollte. Daran angelehnt ist das Sonderziehungsrecht SZR (auf Englisch Special Drawing Rights, SDR) des IWF, das aus einem „Korb“ wichtiger Weltwährungen abgeleitet wird, es aber nicht schaffte, im Rest der Wirtschaft eine große Rolle zu spielen.
Derartige Bewegungen gibt es seit geraumer Zeit. Inzwischen tut sich aber auch eine neue Welle von Reformern hervor. Durch die Erfahrungen in der Finanzkrise kamen sie zu der Überzeugung, dass unser Geldwesen mangelhaft ist. Statt sich jedoch auf Wechselkurse und volkswirtschaftliches Gleichgewicht zu konzentrieren, wandten sie sich der Geldschöpfung zu und kamen zu folgender Schlussfolgerung: Der Grund, weshalb das Finanzwesen außer Kontrolle geriet, ist darin zu suchen, dass das Geld außer Kontrolle geriet. Genauer gesagt gab der Staat die Kontrolle über das Geldvolumen an den „Markt“ bzw. die Banken ab.
Neue Pläne und innovative Herangehensweisen an die Reform des Geldsystems
Die Grundannahme hierbei ist, dass Banken in der Lage sind, Geld aus dem Nichts zu schöpfen. Diese Erkenntnis ist nicht neu und kann sogar bei den Vertretern der klassischen Wirtschaftslehre aus dem 19. Jahrhundert wiedergefunden werden. Allerdings glaubt weiterhin die Mehrzahl der Menschen, die nicht zum begrenzten Kreis von Ökonomen, Bankern und Zentralbankern gehören, dass Banken in erster Linie eine Vermittlerfunktion innehaben, indem sie Einlagen annehmen und dieses Kapital durch die Kreditvergabe dahin lenken, wo es den besten Nutzen bringt. Eine aktuelle Umfrage ergab, dass 71% der britischen Parlamentarier glauben, dass allein der Staat die Möglichkeit besitzt, Geld zu schöpfen. In Wirklichkeit trifft dies nur auf Münzen und Banknoten zu, die zusammen genommen gerade mal 3% der Geldmasse ausmachen.

Credits: Positive Money
Bei den übrigen 97% handelt es sich um elektronisches Geld. Die Reformisten betonen, dass dieses elektronische Geld in dem Moment generiert wird, wenn eine Bank einen Kredit vergibt, und dann wieder zerstört wird, wenn dieser getilgt wird: Banken halten jedoch kein Geld als Reserve vor, wenn sie einen Kredit vergeben, vielmehr entsteht es, indem man in einen Computer Zahlen eingibt, genauer gesagt eine bestimmte Summe auf ein Konto gutschreibt. Das Geldvolumen in der Wirtschaft ist daher größtenteils identisch mit der Kreditvergabe von Banken in der Wirtschaft.
In einem brillanten 12-seitigen Artikel unter dem Titel „Money creation in the modern economy“, der für jeden Wirtschaftsstudent auf der Lektüreliste stehen sollte, erklären drei Mitglieder der Bank of England in einfachen Worten, dass „das meiste Geld in der modernen Wirtschaft von Geschäftsbanken in Umlauf gebracht wird, wenn sie Kredite vergeben“. Analog dazu zerstören Kunden Geld, indem sie ihre Kredite zurückzahlen. Außerdem können Geschäftsbanken Geld schöpfen, indem sie Staatsanleihen oder andere Aktiva erwerben und langfristige Kredite ver- und Kapitalinstrumente ausgeben.
Das wichtige hieran ist Folgendes: „Die Praxis der Geldschöpfung unterscheidet sich vom gängigem Verständnis – Banken dienen nicht einfach nur als Vermittler, die Einlagen ihrer Sparern verleihen, noch vervielfachen sie Zentralbankgeld, um neue Kredite zu vergeben und Einlagen zu schaffen.“ Das Geldvolumen hängt also nicht von der Masse der Reserven in den Zentralbanken ab. Öffentliche Einrichtungen haben keine direkte Kontrolle über die Entwicklung des Geldvolumens. Das mag sich banal anhören, es bedeutet jedoch, dass die Wirtschaftstheorien, die Studenten und zukünftige Führungseliten weltweit in ihren Unikursen lernen, komplett falsch und irreführend sind.
Aber warum dann schöpfen Banken nicht unendliche Mengen an Geld? Laut der Bank of England gibt es drei Faktoren, die der Kreditvergabe von Banken Grenzen setzen: Marktbedingungen, denen sich eine einzelne Bank gegenüber gestellt sieht, Beschränkungen, die sich aus der Nachfrage von Haushalten und Unternehmen ergeben, sowie die Währungspolitik als „letzte Restriktion der Geldschöpfung“.
Die Anhänger der Geldreform stellen die Frage, ob das für die Gesellschaft die beste Art und Weise ist, den Geldumlauf zu organisieren. Sie hegen den Verdacht, dass Universitäten kein Interesse daran haben, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, und Akademiker werden entmutigt, entsprechende Publikationen zu veröffentlichen. Um diese Hindernisse zu umgehen und um den Ideenaustausch auf breiter Front zu fördern, wurde eine neue Forschungsmethodik verwendet. Eine interaktive Webseite – neweconomicperspectives.org – sammelt Leserkommentare, um sicherzustellen, dass alle Themenbereiche abgedeckt sind: „Jeden Montag veröffentlichen wir einen relativ kurzen Artikel und tragen so Stück für Stück eine umfassende Theorie über die Funktionsweise des Geldes in souveränen Staaten zusammen. Bis Mittwochabend sammeln wir alle Kommentare, auf die wir am Donnerstag antworten“. Das Ergebnis ist ein Buch, das unter dem Titel „Modern Money Theory“ (hrsg. von L. Randall Wray, Palgrave Macmillan, 2012) erschienen ist.
Auswirkungen des Beitrags der Bank of England zur Debatte
Die „Offenbarung“ der Bank of England legt nicht nahe, dass die Geldschöpfung außer Kontrolle geraten ist. Allerdings ermöglicht sie, dass die Debatte auf eine neue Ebene kommt: Stellen Mechanismen wie Zinssatz und Eigenkapitalanforderungen wirklich wirksame Mittel dar, um die Art und Weise der Geldschöpfung durch Banken zu regeln? Die Bank of England erklärt im Grunde, dass sie weiterhin starke Kontrollmöglichkeiten besitzt, z.B. durch Zinssätze und durch makroprudentielle Instrumente wie die Begrenzung von Hypothekendarlehen die Verfügbarkeit von Krediten zu beeinflussen. Zentralbanken haben auch damit begonnen, mit Maßnahmen zur „Kreditlockerung“ zu experimentieren, indem sie Banken Mittel zur Verfügung stellen, damit sie mehr Kredite an Unternehmen in der Realwirtschaft vergeben können, z.B. mit dem „Funding for Lending“-Programm der Bank of England und den EZB-Programmen für gezielte längerfristige Refinanzierungsgeschäfte und ein Asset-Backed-Securities-Programm (ABS-Programm). Einige Reformer des Geldwesens stellen die Frage, ob das ausreicht.
Interessanterweise handelt es sich bei den Fürsprechern nicht ausschließlich um Akademiker. Selbstverständlich gibt es einige Veröffentlichungen wie den oben genannten Artikel der Bank of England oder eine weithin bekannte Publikation zweier IWF-Ökonomen aus dem Jahr 2012 mit dem Titel “The Chicago Plan Revisited” hin. Jedoch sind Aktivisten weltweit dazu übergegangen, die breite Öffentlichkeit zu mobilisieren, um Druck auf die Politik auszuüben. Gemeinsam bilden sie das Netzwerk „International Money Reform“, das sich auf lokale Ableger in mehreren Ländern stützt.
Eine der erfolgreichsten nationalen Bewegungen ist „Monnaie Pleine” (Vollgeld) aus der Schweiz, welche ein Bürgerbegehren zur Reform des Geldwesens angestoßen hat und gegenwärtig mit der Unterschriftensammlung beschäftigt ist. Es bedarf 100.000 Unterzeichnern, damit es zu einem Referendum kommt.
Im Vereinigten Königreich ist der Verein „Positive Money“, ein Finance Watch-Mitglied, ebenfalls erfolgreich. 2013 veröffentichten Andrew Jackson und Ben Dyson ihr Buch „Modernising Money: Why Our Monetary System is Broken and How it Can be Fixed”, welches von anderen Mitgliedern des Netzwerks und Wirtschaftslehrern/-professoren an einigen progressiven Schulen und Universitäten in Großbritannien als Lernmaterial genutzt wird.
In Deutschland ist Klaus Karwat, Eigentümer einer kleinen Kunstgalerie in Berlin, als Präsident der Monetative aktiv. Er ist davon überzeugt, dass die Zeit reif ist für eine Reform des Geldsystems: „Wenn wir mit Politikern sprechen, bekommen wir stets dieselben Antworten: ‚Ihre Ideen sind interessant, aber sie stehen nicht auf der Agenda, wir wollen uns lieber auf realistische Reformen konzentrieren‘. Also müssen wir Lobbyarbeit betreiben, um Politiker und die Zivilgesellschaft dazu zu bewegen, Fragen des Geldwesens auf die politische Agenda zu setzen.“ (Interview in Berlin).
Für Ann Pettifor, eine Ökonomin, die ihre eigene Vorstellung von der Reform des Geldwesens hat, verbirgt sich hinter der Debatte auch ein politischer Kampf, da es immense Auswirkungen auf die Einkommensverteilung hat: „So lange wir uns nicht der Funktionsweise des Geldsystems zuwenden, so lange wird das Gemeinwohl Geld von einer winzigen, gierigen Minderheit Wohlhabender in Beschlag genommen“. Sie glaubt ebenfalls an neue technologische Entwicklungen, um ein breiteres Publikum zu erreichen. 2014 veröffentlichte sie ein kurzes E-Book, erhältlich für weniger als 4 EUR, „das vor allem für Studenten gedacht ist – insbesondere weibliche Studenten und Umweltaktivisten“ (Interview auf social-europe.eu).
Der nächste Blogartikel wird einige der Ideen zusammenfassen, die von Befürwortern der Geldreform vorgebracht werden. All jene, die an einer Reform des Finanzwesens interessiert sind, sollten unbedingt auch dieses Thema verfolgen, nicht zuletzt wegen der erfrischenden Perspektive, die dabei eingenommen wird. Bei der Reformirung des Finanzwesens muss es nicht immer nur um Buchführungsstandards und Eigenkapitalanforderungen gehen. Die Kreditvergabe ist der Motor, der die Wirtschaft am Laufen hält, und ein Umdenken beim Thema Kreditvergabe ist nichts weniger als ein Umdenken des Kapitalismus.
Fabien Hassan