Vorsicht vor der Folgenabschätzung | Finance Watch

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Vorsicht vor der Folgenabschätzung

Im Mai 2015 hat Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, seine Vorschläge für eine “Bessere Rechtsetzung” vorgestellt. Ziel ist es, Regelungserfordernisse zu vermindern und das Gesetzgebungsverfahren zu verbessern, intelligente Regulierung eben. Das klingt so wie Apfelkuchen – dagegen ist eigentlich niemand. Warum wird das Thema dennoch so kontrovers diskutiert?

Nachdem das Maßnahmenpaket bekannt gegeben wurde, haben sich mehr als 50 Organisationen aus der Zivilgesellschaft zu einem neuen Netzwerk zusammengeschlossen: der Better Regulation Watchdog. Die Mitglieder, zu denen auch Finance Watch gehört, befürchten, dass die Vorteile der “Besseren Rechtsetzung“ in einigen Fällen zusätzliche Kosten für die Gesellschaft bedeuten könnten.

Die EU-Kommission schlägt unter anderem vor, zusätzliche öffentliche Konsultationen durchzuführen. Außerdem will sie künftig von ihrem Recht Gebrauch machen, Gesetzgebungsvorschläge komplett zurückzuziehen, wenn die Änderungsvorschläge vom EU-Parlament und Rat zu weit gehen (oder wie es auch formuliert wurde, wenn sich das Pferd in ein Kamel verwandelt).

Ein möglicherweise beunruhigender Vorschlag betrifft die Folgenabschätzungen, die künftig während des gesamten Gesetzgebungsprozesses durchgeführt werden sollen. Die EU-Kommission fordert das EU-Parlament und den Rat dazu auf, substanzielle Änderungen, die sie im Gesetzgebungsverfahren vorschlagen, einer Folgenabschätzung zu unterziehen. Sind die Folgen negativ, sollen die Änderungsvorschläge gleich unter den Tisch fallen.

Auch die eigenen Entscheidungsverfahren will die EU-Kommission ändern:  So wird der Ausschuss für Folgenabschätzung der EU-Kommission in einen unabhängigen Ausschuss für Regulierungskontrolle umgewandelt. Die Mitglieder des Ausschusses, der zur Hälfte aus „unabhängigen“ Experten bestehen wird, sollen die Qualität der Folgenabschätzungen im Zusammenhang mit neuen Vorschlägen der EU-Kommission prüfen, noch bevor diese öffentlich werden.

Aber wie lassen sich die Folgen von Gesetzen genau beziffern? Hilfreich wäre zunächst eine einheitliche Definition. Auch werden die Kosten zur Erfüllung der rechtlichen Anforderungen allzu oft mit den Folgen für die Wirtschaft verwechselt.

Erstere beziehen sich auf den Verwaltungsaufwand, auf Bürokratie. Diese Kosten will niemand, und wir sollten zusammen daran arbeiten, dass diese Kosten so gering wie möglich gehalten werden. Gesetzliche Vorschriften sollten leicht einzuhalten sein und z.B. keine doppelten und widersprüchlichen Berichtserstattungspflichten einführen.

Diese Erfüllungskosten sind jedoch nicht gleichzusetzen mit den (negativen) Auswirkungen von Gesetzen auf bestimmte Geschäftsmodelle. Oft bezwecken neue Regelungen gerade dies, beispielsweise den Hochfrequenzhandel bzw. die Spekulation auf den Finanzmärkten einzudämmen, die Finanzmärkte zu stabilisieren und sicherzustellen, dass sie ihre gesellschaftliche Aufgabe erfüllen. Logischerweise sind das schlechte Neuigkeiten für Firmen, die in diese Art von Geschäften involviert sind.

Es ist auch nicht verwunderlich, dass jene, die strenger reguliert werden sollen, unverzüglich auf die Auswirkungen der Vorschriften auf ihr Geschäft hinweisen. In den vergangenen sechs Jahren wurden in der EU für viele, zuvor nicht regulierte Bereiche des Finanzsektors neue Regeln eingeführt, beispielsweise für Hedgefonds, Leerverkäufe oder die Geldmarktfonds. Wenn sich jene Firmen also beschweren, dass Vorschriften ihrem Geschäft schaden, dann müssen diese Folgen dem gesamtgesellschaftlichen Nutzen solcher Maßnahmen gegenüber gestellt werden, mithilfe einer Kosten-Nutzen-Analyse.

Allerdings, das kommt erschwerend hinzu, sind die Folgekosten von Gesetzen leichter zu berechnen (wie die Beschwerdeführer aus der Finanzindustrie selbst beweisen), da sie einfach messbar sind, unmittelbar anfallen und nur wenige betreffen, die sich dann lauthals beschweren, wie sehr ihre Gewinne doch im Vergleich zu früher geschrumpft seien.

Die Vorzüge von neuen gesetzlichen Regelungen dagegen sind nur schwer zu beziffern, wirken eher langfristig und betreffen viele. Was ist es wert, auf lange Sicht das Risiko zu verringern, dass Steuerzahler erneut “systemrelevante“ Banken retten müssen? Versuchen Sie das mal exakt zu berechnen! Ist es okay, dass Banken Gewinneinbußen im dreistelligen Millionenbereich erleiden, wenn dafür die Steuerzahler nicht Milliarden für Bankenrettungen zahlen müssen?

Wenn Politiker von einer Kosten-Nutzen-Analyse sprechen, dann meinen sie leider oft eine Folgenabschätzung in Bezug auf die Kosten für die Wirtschaft. Wir sollten nicht vergessen, dass es einen konkreten Grund dafür gab, den Finanzsektor wieder strenger zu regulieren: In einer der schwersten Finanzkrisen seit 100 Jahren, die zudem enorme Auswirkungen auf die Realwirtschaft hatte, mussten in vielen EU-Ländern die Steuerzahler Banken retten, und neue Gesetze sollten daher als oberstes Ziel haben, dass dies niemals wieder geschieht.

Aus diesem Grund sind wir skeptisch, was die Stärkung der Folgenabschätzungen betrifft. Aus Sicht der Gesamtgesellschaft wird das Gesetzgebungsverfahren kaum verbessert, wenn jeder Änderungsvorschlag einer neuen Folgenabschätzung bedarf, die in erster Linie die möglichen Kosten für die Wirtschaft berücksichtigt.

Die Initiative für eine „Bessere Rechtsetzung“ könnte die Art und Weise, wie demokratische Regeln  aufgestellt werden, nachhaltig verändern – das ist sogar das erklärte Ziel. Es gibt noch eine Reihe anderer Punkte, die besorgniserregend erscheinen. Mehr dazu auf der Internetseite des “Better Regulation Watchdog“.

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