Squid Game und Überschuldung: strukturelle Antworten benötigt

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Was sagt uns die virale Netflix-Serie Squid Game über die Notlage verschuldeter EU-Bürger*innen? Finance Watch sieht einen Ausweg aus dem Problem der Überschuldung und sagt: Zeit, die Spielregeln umzuschreiben.

Anm.: Dieser Beitrag ist die Übersetzung eines Beitrags, der ursprünglich in englischer Sprache auf der Webseite von Finance Watch erschienen ist.

Der Netflix-Hit „Squid Game“ aus Südkorea ist nach wie vor ein viraler Erfolg, was darauf hindeutet, dass das übergreifende Thema – durch Schulden verursachte Verzweiflung in einer alternativen dystopischen Realität – bei Zuschauern weltweit Anklang findet. Im ersten Monat nach ihrer Veröffentlichung verhalf die Fangemeinde der Serie durch etwa 142 Millionen Aufrufe durch Netflix-Mitglieder*innen (67,8 Prozent aller Abonnent*innen) weltweit in mehr als 90 Ländern auf den ersten Platz. Das entspricht mehr als der Hälfte aller weltweit gemeldeten Fälle von Covid-19 seit Beginn des Ausbruchs. Mit Blick auf den Erfolg der Show erklärte ein Verantwortlicher, die geheime Zutat sei, dass die Zuschauer eine Serie sehen wollen, die sie „anspricht“, in der sie sich selbst dargestellt sehen, ihre Geschichten sehen.

Überschuldung: ein weltweit zunehmendes Problem

Ende Oktober warnte die Bank of Korea vor steigenden Kosten und Schulden für private Haushalte. Das Preis-Einkommens-Verhältnis in Südkorea, das die Lebenshaltungskosten widerspiegelt, ist im Vergleich zum vierten Quartal des letzten Jahres um das 1,13-Fache gestiegen.[1] Wird nichts gegen dieses Missverhältnis getan, könnte es zu einer Welle von überschuldeten privaten Haushalte führen und das Land in eine Finanzkrise stürzen.

Auf Haushaltsebene betrachtet können sich Privatinsolvenzverfahren über Jahre hinziehen, was die sozioökonomische Teilhabe der Haushaltsmitglieder*innen weiter erschwert. Auf nationaler Ebene kann die Anhäufung von „faulen Krediten“ (non-performing loans) in den Bilanzen von Banken die Kreditvergabe und das Wirtschaftswachstum bremsen und das Vertrauen in das Finanzsystem untergraben. Ähnliche Trends gab es in der Europäischen Union: In Deutschland stieg das Preis-Einkommens-Verhältnis im gleichen Zeitraum um das 1,07-Fache – was uns ebenfalls besorgen sollte.

Die Rolle von ausbeuterischen Krediten

Einen Kredit in Südkorea aufzunehmen – und sich damit zu verschulden – ist sprichwörtlich so einfach, wie einen Kaffee zu kaufen.[2] Die Situation in Europa ist kaum anders.

Eine kürzlich von Finance Watch durchgeführte Studie über missbräuchliche Praktiken auf dem EU-Verbraucherkreditmarkt (auf Englisch) zeigt, dass ausbeuterische Produkte wie Kurzzeitkredite (payday loans) und so genannte „Heute kaufen, später zahlen“ (buy now, pay later)Angebote Teil des Problems sind. Sowohl auf dem Online- als auch auf dem Offlinemarkt sind missbräuchliche Verkaufspraktiken sowie überteuerte Kreditangebote weit verbreitet.

Im Jahr 2019 gaben 68,6 Prozent der EU Verbraucher*innen an, dass ihr finanzielles Wohlergehen durch die Inanspruchnahme von Krediten „mittel“ bis „stark“ beeinträchtigt wurde. Vor der Pandemie liefen 7,2 Prozent der Europäer*innen über 16 Jahren Gefahr, „in Schulden zu ertrinken“ oder überschuldet zu werden. Diese Zahl entspricht etwa 26,9 Millionen Menschen, mehr als die gesamte Bevölkerung Dänemarks, der Niederlande und Österreichs zusammengerechnet.[3] Um die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Wirtschaftskrise zu überwinden, müssen die Bedürfnisse dieser Menschen – und der 22 Prozent der EU-Bürger*innen, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind – zum Herzstück aller Gesetze gemacht werden die als zukunftsfähig gelten sollen.

Was ist Überschuldung?

Per Definition liegt eine Überschuldung vor, wenn die finanziellen Verpflichtungen einer Person oder eines Haushalts folgende drei Faktoren erfüllen:

1) Die Schulden übersteigen über einen längeren Zeitraum das Einkommen,

2) die Situation kann nicht durch zusätzliche Kredite behoben werden, und

3) die Überschuldung bleibt bestehen, es sei denn, die Lebensqualität wird auf ein Niveau unterhalb der Armutsgrenze gesenkt – es muss sozusagen „der Gürtel enger geschnallt werden“.

Überschuldung: kein Nischenproblem

Ohne die Schaffung eines soliden Verbraucherschutzes und einer sozialen Infrastruktur bleibt das Risiko finanzieller Schwierigkeiten dem Zufall überlassen. Pech kann jeden treffen, manche Menschen haben jedoch von Beginn an größere Nachteile. Menschen, die unter die Definition von „Erwerbsarmut“ fallen, oft mehrere Teilzeitjobs ausüben oder einen Haushalt mit nur einem Elternteil führen, haben nur wenig Zeit und keine angemessene Unterstützung. Sie laufen daher Gefahr, sich zu überschulden. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass 9,2 Millionen Alleinerziehende in Europa Frauen sind. Zu den Risikogruppen gehören auch Einwanderer*innen und Angehörige ethnischer Gruppen, die nicht die Mehrheit stellen, ältere Menschen, die nicht über die erforderlichen Qualifikationen oder körperlichen Voraussetzungen zur Teilnahme am Arbeitsmarkt verfügen, Menschen in ländlichen Gebieten mit begrenzten Möglichkeiten sowie Kinder, deren Eltern Mühe haben, beruflich aufzusteigen. Besonders Menschen, auf die mehrere Punkte dieser Liste zutreffen, haben ein höheres Risiko in finanzielle Schwierigkeiten zu geraten.

Die Gewinnstrukturen vieler moderner Kreditprodukte, wie z.B. kurzfristige Kredite mit hohen Zinssätzen, bieten Anreize für unverantwortliche Kreditvergabepraktiken und nutzen das finanzielle Unglück bereits gefährdeter Personen aus. Der durchschnittliche effektive Jahreszins für teure kurzfristige Kredite – für Menschen mit geringem Einkommen – liegt bei schockierenden 2.543 Prozent, wobei sogar Zinssätze von bis zu 30.341 Prozent ermittelt wurden.[4] Kunden mit niedrigem Einkommen zahlen einen relativ höheren Preis für den Zugang zu Krediten, die sie für Investitionen in ihre persönliche Entwicklung oder zum Ausgleich vorübergehender Einkommensausfälle benötigen.

Ein sich verändernder Arbeitsmarkt hat viele Menschen zu „Erwerbsarmut“ geführt. Der Anstieg der Teilzeitbeschäftigung um mehr als 12 Prozent zwischen 2008 und 2018 ist ein Beispiel dafür, wie auch der vergleichbare Zuwachs bei der Gig- oder Abrufarbeit. Schicksalsschläge wie der Verlust des Arbeitsplatzes, eine Trennung oder Scheidung, geschäftliche Misserfolge, Unfälle, Krankheiten oder Todesfälle in der Familie können Menschen ebenfalls in eine erdrückende Schuldenspirale stürzen. Wie wahrscheinlich dies ist, hängt sowohl vom Haushalt als auch von den sozialen Sicherheitsnetzen ab, die in verschiedenen Ländern existieren.

Ein Weg nach vorn

Es sollte deshalb nicht überraschen, dass die Mittel- und Unterschicht in der EU sich mit Seriencharakteren identifizieren kann, die lieber in einem Spiel auf Leben und Tod um die Rückzahlung ihrer Schulden kämpfen, anstatt in ihren tristen Arbeitsalltag zurückzukehren.

Wenn erschwingliche Wohnungen, Waren und öffentliche Dienste wie Gesundheitsfürsorge, Kinderbetreuung und Langzeitpflege für pflegebedürftige Erwachsene existieren, ist die Wahrscheinlichkeit geringer in die Schuldenfalle zu tappen. Entscheidend sind auch der Zugang zur Arbeitslosenversicherung, die Bezugsdauer und die gewährten Mittel. Ist der Punkt, an dem Prävention nicht mehr möglich ist, erst einmal überschritten, müssen Hilfsmechanismen greifen und sicherstellen, dass Menschen die Möglichkeit zur Integration, zur Wahrung ihrer Würde und zur Selbstentwicklung haben. Dies kommt sowohl den Familien als auch der Gesellschaft als Ganzes zugute. Eine kostenlose und qualitativ hochwertige Schuldnerberatung sowie faire und effiziente Insolvenzverfahren können dazu beitragen, Menschen Hoffnung zu geben und einen Neuanfang zu ermöglichen.

Bislang gibt es jedoch keine EU-Standards oder bewährte Praktiken für den Abbau der Überschuldung privater Haushalte. Es besteht ebenfalls ein Ungleichgewicht zwischen den Rechten der Gläubiger auf Rückzahlung und den Rechten der Schuldner auf ein menschenwürdiges Leben.

Um diese Spielregeln in Zukunft zu ändern, müssen wir mit geeinter Stimme sprechen und uns gemeinsam bemühen. Die Zivilgesellschaft kann die Spielregeln wirksamer umschreiben, indem sie eng mit politischen Entscheidungsträger*innen zusammenarbeitet, um das Problem durch eine verbraucherorientierte Überarbeitung der Verbraucherkreditrichtlinie (Consumer Credit Directive) sowie durch die Schaffung von EU-weiten Standards für Privatinsolvenzverfahren anzugehen. Gemeinsam können wir sowohl Verbraucher*innen als auch die Finanzstabilität in der EU besser schützen.

Was Sie tun können

Kontaktieren Sie den Autor oder besuchen Sie unsere Website, um mehr über die Arbeit von Finance Watch zum Thema finanzielle Integration und Überschuldung zu erfahren.

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Verfasser*in

Emily Glantz

Referentin für Strategieentwicklung

Über den/die Verfasser*in

Als Referentin für Strategieentwicklung koordiniert Emily das Fundraising, überwacht die Umsetzung von Finance Watch’s Strategie und unterstützt den Generalsekretär und das Managementteam. Sie fungiert auch als Sekretärin des Finance Watch Vorstandes. Mehr zu Emily

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