Kritik an ESG-Ratings: Äpfel und Birnen werden addiert

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Der Markt für ESG-Ratings ist bislang nicht reguliert. Das führe zu Verwirrung bei Kleinanlegern und Interessenskonflikten der Ratingagenturen, kritisiert Thierry Philipponnat. Er fordert eine transparentere Struktur der Ratings.

Anm.: Dieses Interview wurde von Leonie Düngefeld geführt und erschien ursprünglich bei Table Media.

Herr Philipponnat, ESG-Ratings bewerten die Leistung eines Unternehmens in den Bereichen Umwelt (E), Soziales (S) und Unternehmensführung (G). Worin besteht Ihre Kritik?

ESG-Investitionen haben zwei Dimensionen: Es gibt die finanzielle Materialität, also die Risikoperspektive von außen nach innen („outside-in“). Sie beschreibt die finanziellen Auswirkungen äußerer Risiken wie der Umwelt oder sozialer Probleme auf das Unternehmen. Und dann gibt es die Impact-Materialität, also die Auswirkungen eines Unternehmens auf Umwelt und Gesellschaft („inside-out“). Hinter dem Begriff ESG-Investment stecken also zwei sehr unterschiedliche Dimensionen, was in Ordnung ist – solange wir genau wissen, welches von beiden Zielen wir mit der Investition erreichen wollen.

Und an dieser Stelle mangelt es den Ratings an Aussagekraft?

Es gibt noch ein weiteres Problem: Die drei Bereiche E, S und G sind von Natur aus sehr unterschiedlich. Wenn ich also ein ESG-Rating sehe, sagt mir das nicht ganz klar ob es sich auf E bezieht, auf S oder auf G. Tatsächlich befasst es sich nämlich mit allen dreien und fasst dies zu einer synthetischen Bewertung zusammen.

Was genau ist daran problematisch?

Im Grunde sagt die Bewertung nichts aus, oder nur sehr wenig. Nehmen wir den Fall eines Unternehmens, das sehr gute soziale Praktiken und eine gute Unternehmensführung vorweist, also seine Mitarbeiter gut behandelt und so weiter – aber schreckliche Auswirkungen auf die Umwelt hat. Es erhält also eine gute Bewertung für S und G, und eine negative Bewertung für E. Dabei kommt dann ein durchschnittlich gutes Rating heraus. Und so finden Sie dann Unternehmen mit sehr negativen Auswirkungen auf die Umwelt in ESG-Portfolios. Auch das kann ein Durchschnittsbürger nicht auf den ersten Blick erkennen, es sei denn, er gräbt sich tief in die Materie hinein.

In einem kürzlich veröffentlichten Bericht fordern Sie, die unterschiedlichen Bereiche der Ratings voneinander zu trennen. Was bedeutet das?

Wir schlagen etwas sehr Einfaches und Logisches vor: Anbieter von ESG-Ratings erledigen ihre Arbeit ohnehin für jeden einzelnen Bereich. Deshalb sollen sie ein separates Rating für E, S und G sowie jeweils für Impact- und finanzielle Materialität anbieten. Als Nutzer werde ich diese Bewertungen dann richtig verwenden können, mit einer klaren Vorstellung davon, welche Themen ich mit meiner Investition adressiere.

Die Nachhaltigkeitsratingagentur Morningstar Sustainalytics reagierte auf diesen Vorschlag mit dem Einwand, die direkten Nutzerinnen und Nutzer von ESG-Ratings seien keine Kleinanleger, sondern erfahrene professionelle Anleger. Diese würden verstehen, dass verschiedene Anbieter unterschiedliche Bewertungenliefern, und diese Vielfalt schätzen.

Das Problem mit den heutigen ESG-Ratings ist nicht ihre Vielfalt. Vielfalt ist willkommen, solange Klarheit darüber besteht, was bewertet wird und wie es bewertet wird. Das Problem eines ESG-Ratingprozesses, der E, S und G in ihren Dimensionen der finanziellen Materialität und der Impact-Materialität zusammenfasst, besteht darin, dass er Verwirrung stiftet, indem er Äpfel und Birnen addiert – und dass er einen unbegründeten Anschein von Strenge erweckt, der der gesunden Entwicklung von ESG-Investitionen abträglich ist.

Wir dürfen auch nicht vergessen, dass am Ende der Kette das Geld den Kleinanlegern gehört, auch wenn es von professionellen Anlegern verwaltet wird, und dass, wenn die Kleinanleger das Vertrauen verlieren, das gesamte ESG-Investing zusammenbrechen wird.

Am 13. Juni will die EU-Kommission einen Gesetzesentwurf vorstellen, um ESG-Ratings und deren Anbieter zu regulieren. Neben der Intransparenz und der fehlenden Überwachung des Marktes ist einer Ihrer Kritikpunkte die bestehenden Interessenskonflikte der Ratingagenturen. Worin bestehen diese?

Ich gehe davon aus, dass die schwierigste Debatte jene über die Trennung von Beratungsgeschäft und Ratinggeschäft sein wird. Wenn ein Anbieter von ESG-Ratings Beratungsdienstleistungen an ein Unternehmen verkauft, sollte der Ratinganbieter nicht auch noch das Unternehmen bewerten. Sonst gibt er am Ende eine Bewertung über ein Unternehmen ab, von dem er Geld erhält.

Was schlagen Sie vor?

Unsere Vorschläge sind hier von den Regeln für Kreditratingagenturen inspiriert. Wir sind der Meinung, dass die Regeln, die die EU für Kreditratingagenturen in Bezug auf Interessenkonflikte verabschiedet hat, auch für ESG-Ratingagenturen weitgehend ausreichen werden. Das würde auch die Einführung erleichtern.

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